igenleben Nahe
bei dem Hafen der Stadt Helsingör steht ein altes graues Eckhaus. Selbst ein
ehrwürdiger Zeuge der Vergangenheit, aus dem Anfang des achtzehnten Jahrhunderts,
ist es ein verschwiegener Beobachter all des Neuen, das ringsum entstand. In
der langen Zeit ist es zu einem Ding geworden, das sein eigenes Leben führt:
So, wenn an einem windigen Tag bei Nord-Nordwest die Vordertür auf ist, geht
gleichermaßen in heimlichem Einverständnis auch die Türe
des oberen Flures auf. Und bei dem Tritt auf eine bestimmte Stufe der Stiege
gibt jedesmal ein Brett vom Boden des Wohnzimmers fein melodisch singende Antwort
wie auf einen Anruf. - (
blix
)
Eigenleben
(2) Beruht denn nicht alle Form
auf Elimination, ist Konstruktion nicht Verminderung, kann ein Ausdruck etwas
anderes als nur einen Teil der Wirklichkeit wiedergeben? Der Rest ist Schweigen.
Und schließlich: schaffen wir die Form, oder schafft sie uns? Es scheint uns,
daß wir konstruieren - Täuschung! —, in gleichem Maße werden wir konstruiert
durch die Konstruktion. Das, was du geschrieben hast, diktiert dir den weiteren
Sinn; nicht aus dir wird das Werk geboren; dies wolltest du schreiben, und etwas
ganz anderes ist dir aufs Papier gekommen. Die Teile neigen zu einem Ganzen
hin, jeder Teil strebt heimlich zu einem Ganzen, trachtet nach Abrundung, sucht
Ergänzung, erfleht die Fortsetzung nach seinem Bilde
und seiner Ähnlichkeit. Unser Geist fischt aus dem
aufgewühlten Ozean der Erscheinungen irgendeinen Teil, sagen wir, ein Ohr oder
ein Bein, und schon drängt sich uns am Anfang unseres Werks ein Ohr oder ein
Bein in die Feder, und dann kommen wir nicht mehr aus dem Teile heraus, wir
schreiben ihm seine Fortsetzung, und er diktiert uns alle übrigen Glieder. Um
den Teil ranken wir uns wie der Efeu um die Eiche, der Anfang
begründet das Ende, das Ende den Anfang, die Mitte
aber entsteht zwischen dem Anfang und dem Ende. Absolutes Nicht-Können und Nichtimstandesein
zum Ganzen kennzeichnet die menschliche Seele. - (
fer
)
Eigenleben (3)
Eigenleben
(4) Richter Di schüttelte langsam den Kopf und sagte:
»Nein, ich habe das Gefühl, daß dieser Fall noch nicht beendet ist, Hung, noch
nicht ganz. Die Kurtisane war von einem solch unversöhnlichen Haß besessen,
daß ich befürchte, Lius Selbstmord wird sie nicht besänftigt haben. Es gibt
Gefühle von solcher Intensität, von solch unmenschlicher Heftigkeit, daß sie
gewissermaßen ein Eigenleben annehmen und ihre Macht, Schaden zuzufügen, noch
lange nach dem Tod dessen behalten, der diese Gefühle hegte. Es heißt sogar,
daß jene dunklen Kräfte sich manchmal eines Leichnams bemächtigen und ihn für
ihre unheilvollen Ziele benutzen.« - Robert van Gulik, Der See von Han-yuan. Zürich 1990
Eigenleben (5)
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