Dada-Séance  Man schreibt uns aus PARIS: Im großen Saal des Salon des Indépendants fand kürzlich vor viertausend Zuhörern eine Dada-Séance statt, die sich von den vorhergegangenen vor allem dadurch unterschied, daß die vorgetragenen Manifeste von mehreren Personen gleichzeitig gesprochen wurden: das von Tristan TZARA von vier Personen und einem Journalisten, das von Francis PICABIA von zehn Personen. Außerdem wurden Manifeste von André BRETON, Louis ARAGON, Paul ELUARD, Georges RIBEMONT-DESSAIGNES und Paul DERMÉE verlesen. Schon während des Manifests von Tzara flogen einige Zweisousstücke auf die Vortragenden. Man beruhigte sich jedoch wieder und hörte das Rezitieren von Gedichten der Dadaisten Philippe Soupault, Marcel Duchamp, Walter Serner und Raymond Radiguet geduldig an, vielleicht nur deshalb, weil man infolge des gleichzeitig stattfindenden unaufhörlichen Glockenläutens hinter der Szene (eine dadaistische Neuerung!) nur sehr wenig verstand. Als aber das Programm, das wie gewöhnlich wüste Tänze und fürchterliche Musikpiecen enthielt, sich seinem Ende zuneigte, ohne daß der mit riesiger Reklame angekündigte amerikanische Kinoschauspieler Charlie Chaplin auf dem Podium erschien, begann das Publikum, das sich geprellt fühlte, die Dadaisten zu apostrophieren und schließlich zu beschimpfen. Es kam zu wilden Auftritten, Ohrfeigen fielen, und es hätte wenig gefehlt, so wäre eine allgemeine Prügelei das Ende gewesen. Da hatte jedoch ein Ingeniöser den vorzüglichen Einfall, die elektrische Beleuchtung abzudrehen. Als es nach wenigen Minuten wieder hell wurde, schrien einige Dadaisten mit mächtiger Stimme in den Saal: »Vive Napoléon! Vive Chaplin! Vive Tzara!« Und unter allgemeiner Heiterkeit leerte sich der Saal.  J. L. [BERLINER BÖRSEN-COURIER Nr. 100, 28. 2. 1920.]  - Walter Serner, Das Hirngeschwür. DADA. Gesammelte Werke II, Hg. Thomas Milch. München 1988
 
 

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