maulschelle  Eine Maulschelle nannten unsere Vorfahren dasjenige, was wir modernen Menschen mit dem Worte Ohrfeige zu bezeichnen uns angewöhnt haben.

Wer eine Maulschelle empfing, war ein Bube, ein Rabenaas, ein nichtsnutziger Schelm, ein Galgenstrick, ein vermaledeiter Schalk, ein Teufelsfraß, ein Grillenfänger, ein Tunirgendsgut, ein Binnichthier, ein Siebenschläfer (sofern es sich um ein Kind männlichen Geschlechtes handelte). Mädchen, die sich Maulschellen verdienten (eine mildere Art derselben übrigens), waren Lutschliesen, Schmollmäuler, Traumtaschen, Schlafmiezen (und was dergleichen mehr ist).

Der Knabe, welcher sich eine Maulschelle zuzog, trug einen Matrosenanzug, hatte eine schlechte Haltung und selten eine Brille, woran man den Fleißigen erkannte. Er zeigte schon im zarten Kindesalter durch ein Zucken um die Mundwinkel Anzeichen von Verschlagenheit und Spottsucht, welche sich mit fortschreitendem Alter zu bedrohlicher Größe auswachsen würden. Er hatte es faustdick hinter den Ohren, sodaß diese steil abstanden.

Er nahm sich an keinem ein Vorbild.
Er nahm sich nicht zusammen.
Er nahm sich sehr viel heraus.
Er gab sich keine Mühe.
Er gab dauernd ein Ärgernis.
Er gab seinen Mitschülern oft Maulschellen.
Er gab, wenn er gefragt wurde, keinen Ton von sich.
Er gab seinen Erziehern manches Rätsel auf.
Er gab entsetzlich an.
Er gab sich keinen Stoß.
Er ging nicht in die Kirche.
Er ging Jüngeren nie mit gutem Beispiel voran.
Er ging jeder Anstrengung aus dem Weg.
Er ging nie aus sich heraus.
Er ging nicht in sich.
Er ließ sich gehen.
Er konnte nicht still sitzen.
Er konnte einen zur Weißglut bringen.
Er konnte sich nicht beherrschen.
Er konnte mit den Wahrwörtern nichts anfangen.
Er konnte sich in keinem Punkte mit seinem Bruder vergleichen.
Er konnte kein Instrument spielen.
Er konte einem leid tun.

Diejenigen, welche Maulschellen austeilten, waren Respektspersonen. Hierzu zählten in der Ausdrucksweise unserer Vorvorderen Lehrer, Handwerksmeister, hochwürdige Herren, Herren überhaupt sowie Herrschaften jeglicher Art, insgesamt sehr vorgesetzte Personen.

Wer eine Maulschelle verabreichte, trug einen schwarzen Anzug, der an Ellbogen und Knien leicht ausgebeult war und daselbst ein wenig glänzte. Er trug Verantwortung. Er trug Hosenträger. Er besaß Ämter und Würden.
Er stand ratlos vor so viel Verstocktheit. Er war in Ähren ergraut.
Er war entrüstet über diesen Abgrund an Unbotmäßigkeit.
Er hatte mehr als gute Gründe für seine Maulschälle.
Er hatte in seiner Jugend nie eine Maulschälle empfangen müssen.
Er hatte auch nicht nur Glück in seinem Leben gehabt.
Er hatte früh seine Ältern verloren und für seine Geschwister sorgen müssen.
Er hatte bereits mit zwölf Jahren seinen Homer geläsen.
Er hat es sich nicht leucht gemacht.
Er hätte sich geschämt.
Er hätte sich so etwas nicht einmal im Traume einfallen lassen.
Er hätte sich zusammengerissen.
Er hätte sich am Riemen gerissen.
Er hätte sich eine Maulschälle zu Härzen genommen. -  Alois Brandstetter: Überwindung der Blitzangst. München 1974 (dtv sr 27, zuerst 1971)

Maulschelle (2) Fast jeder Lehrer prügelte, jeder hatte sein eigenes System der Züchtigung. Einer namens Knapp hatte eine besonders entwürdigende Art zu strafen. Er sah schon äußerlich recht unerfreulich aus. Sein Gesicht war von jenem Furcht und Schrecken einflößenden Schnitt, den man in Norddeutschland häufig bei Beamten der Wach- und Schließgesellschaften und in den Reihen der Gefängniswärter antrifft. Unterstützt wurde das Furchtgebietende seiner düster-kalten Züge durch eine Vorliebe tür rauhhaarige Anzugstoffe, die ihn wie ein Fell umgaben und das Tierische betonten. Er pflegte sich folgendermaßen in Respekt zu setzen: Während er auf dem Katheder saß, mußte man sich in strammer Haltung vor ihm aufbauen, die Hände an die Hosennaht gepreßt und das Gesicht aufrecht geradeaus. Nachdem er einen längere Zeit strafend gemustert, drehte er langsam, die bevorstehende Prozedur fachmännisch ausdehnend und auskostend, seinen großen Siegelring nach innen, wartete abermals und hieb den Delinquenten plötzlich mit gezügelter Wucht vor die Stirne, wobei er mit tiefer Verachtung ein «Du Ochse!» hervorstieß.  - George Grosz, Ein kleines Ja und ein großes Nein. Sein Leben von ihm selbst erzählt. Reinbek bei Hamburg 1986, zuerst 1955

Maulschelle (3)   Die letzten Stunden der Charlotte Corday dienten dazu, sie für ein Bild posieren zu lassen und ihr die langen Locken abzuschneiden, damit ihr Nacken für das Messer frei zugänglich sei. Sie zog das rote Hemd an, das Mörder tragen mußten, und wurde auf einem Karren, die Hände auf dem Rücken gebunden, zum Hinrichtungsplatz auf der Place de la Concorde gebracht. Aufrecht, von einem plötzlichen Gewitterregen durchnäßt, schritt sie jung, schön und selbstsicher in den Tod. Sie wurde auf ein Brett gebunden und unter das Messer gelegt, das wenige Sekunden später ihr Haupt vom Rumpf trennen sollte. Ein Henkersknecht hielt ihren Kopf der Menge entgegen und schlug auf die Wangen, die angeblich rot wurden. Es war eine unwürdige Handlung, für die der Knecht von seinem Chef Sanson gerügt wurde. - A. J. Dunning, Extreme. Betrachtungen zum menschlichen Verhalten. Frankfurt am Main 1992

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