Tzara, Tristan   Tagsüber saß er zwischen seinen Altertümern, Trommeln und Gode michets wie ein Bär und putzte seine Klauen, klein von Statur, immer eifrig, hellhörig, scheinbar müde, dann aber auffahrend, als hätte man einen Donnerschlag unter seinem Hintern abgebrannt. Unter den Bäumen und am See, wo die Blätter fallen, Frauen mit geilen Augen auf den entfärbten Bänken hocken und man durch Nebel und Unsinn Aussicht auf Berge und Menschen hat - in Zürich, wenn irgendwo eine schmalzige Kapelle spielt, die Dampfer an den Brücken tuten und Weiberfleisch aus den Schatten quillt - dann wird er sentimental, erzählt von seiner Heimat, Rumänien von „notre feu roi" oder einem riesengroßen dunklen Urwald, in dem Türken und Heiden wohnen und ein Tier haust, das man Burzuk nennt und das die Genitalien der Männer frißt.  - Richard Huelsenbeck in: Dada siegt! Hamburg 1980 (zuerst 1922)

Tzara, Tristan (2)

Tzara, Tristan (3)

- Nach:  Hans Richter, Dada - Kunst und Antikunst. Köln 1964

Tzara, Tristan (4)  Als wesentlicher Initiator nahm Tristan Tzara am Ende des Ersten Weltkriegs an der dadaistischen Bewegung teil. Für einige von uns ist er der Mann gewesen, der die Steine sprechen ließ. Dieser »Wilde unter den Dichtern« kehrte das Unterste zuoberst, verspottete bürgerliche Konventionen und Logik, trat die heuchlerischen Formeln einer Vernunft mit Füßen, die sich allein durch das in Ängstlichkeit gründende Bedürfnis zu rechtfertigen schien, den Menschen in Sklaverei und Gefangenschaft zu halten. Seine Wut richtete sich gegen die Sprache als den ärgsten Feind der Gesellschaft. Aus diesem Instrument machte er weniger ein Mittel zur Verständigung denn einen Sprengstoff, der die Rückkehr ins Chaos ermöglichte, nachdem jede Hierarchic der Dinge, nachdem die gesamte Ordnung der Zerstörung anheimgefallen war. Das Auge glich sich dem Türknauf an und der Schrotthaufen der imaginären, den Lauf der Gestirne regelnden Mechanik. Eine Verbindung bestand zwischen Rost und Blut, zwischen dem lauwarmen Brei unserer Eingeweide und dem Bergkristall der hoch fliegendsten Gedanken, zwischen den geheimsten Regungen des Herzens und den langsamen Veränderungen im Inneren der Metalle, während die Vögel davonzogen, das wachsende Gras die Knochen der Maulwürfe bedeckte und die sich drehenden Leuchtfeuer sowohl die Periodenhaftigkeit der Monatsblutungen als auch die Abfahrt und Ankunft der Schiffe bestimmten.

Allem verlieh er eine Stimme: Die Blätter am Baum wurden zu Worten einer neuen Form der Sprache, die Rinde stand in ihrer Empfindsamkeit einem Schrei so nahe wie die I laut. Im Laufe dieses gigantischen Festes verlor der Mensch seine kleinlich umgrenzte, akademische Form und seinen Platz als Mittelpunkt des Universums. Nach der Sprengung aller Rahmen vermischte er sich mit dem grenzenlosen Chaos der Welt. Während dieses großangelegten Massakers, dieses wirklich panikartigen Festes fand eine Kommunion statt, wie sie bei den Zeremonien der sogenannten »primitiven« Völker gang und gäbe ist. Dort wird mit Hilfe vergossenen Blutes, orgiastischer Tänze und der sinnlosen Verschleuderung von Reichtümern ein Pakt mit den naturbeherrschenden Gewalten besiegelt.

Dies ist mein Bild von Tristan Tzaras nihilistischer Phase, die für ihn ihren Ausdruck in Dada fand. Poetisch hat er in dem berühmten Aphorismus Das Denken vollzieht sich im Mund das zusammengefaßt, was (so negativ es auch sein möge) seine Doktrin genannt werden muß. Darunter verstand er einerseits, daß das Gebäude der Vernunft als reine Wortklauberei zu betrachten ist und daß sich unsere gesamte geistige Tätigkeit auf eine nichtige Fähigkeit zur Rede reduziert. Andererseits bedeutete ihm dieser Satz aber auch, daß das Denken für den Dichter wirklich in den Worten gründet, in ihrem Geschmack, ihrem Widerhall und der Art und Weise, wie sie sich in unserem Mund bilden und dort menschliche Wärme schöpfen. Sie formen sich in der Intimität der Organe und steigen fern aller trockenen, weil abstrakten Regelhaftigkeit an die Oberfläche.

In der außerordentlichen Bedeutung, die er stets der Sprache -dem wesentlichen Erkennungsmerkmal des Menschen - beigemessen hat, finden die frühere nihilistische Phase Tzaras und seine heutige humanistische Poesie ihren gemeinsamen Nenner. Als er die Steine sprechen ließ, stellte dies für ihn im Grunde eine Form ihrer Humanisierung dar. Er gab sich dem Strömen eines in gewisser Weise mineralischen und biologischen Lyrismus hin und lieferte sich damit dem Fluß der Dinge aus, identifizierte sich mit ihnen und durchdrang sie mit Menschlichkeit. - Michel Leiris über Tristan Tzara: Die Flucht. In M. L., Leidenschaften. Frankfurt am Main 1992

 

Dadaist

 

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