- Kai Pfeiffer, aus: alltagsspionage. Comicreportagen
aus Berlin.
Monogatari,
Berlin 2001
Passantenwalze (2) Der Nachmittag war normal, alles verhielt
sich denkbar normal, auf der Breiten Gasse herrschte das alltägliche
Gewühl der Konsumenten, in dem er ohne Aufsehen untertauchen konnte. Der Andrang
war gerade jetzt, wenige Stunden vor dem Ende der Geschäftszeit, besonders stark;
es gab niemanden, der in der glänzenden Ladenzeile langsam ging, alles eilte
und eiferte, und alles trug in den Gesichtern die Überzeugung zur Schau, der
gerechtesten Sache der Welt zu dienen: dem Shopping. Unten am Rand der Querstraße
zur Breiten Gasse kamen die Taxis nicht zur Ruhe, kaum hielt eins von ihnen,
wurden schon pralle Plastiksäcke auf die Rücksitze oder in den Kofferraum geworfen,
ein Wagen nach dem anderen füllte sich mit Kundschaft, und einer nach dem andern
glitten sie davon, weich und spielerisch, den nachrückenden Autos Platz machend,
sie schnurrten auf das Weichbild der Stadt zu, oder hinaus in die Außenbezirke,
wo die Taxis wieder neue, noch unbefriedete Käufer einluden und vor die Fußgängerzone
fuhren. So ging es hin und her in stetem Handel und Wandel, wie dies irgendein
Präsident, ein Bank- oder Bundespräsident ausgedrückt hatte, konservativ und
geschmeidig im Handel und Wandel einer seiner Reden; und die Straßenbahnen,
die vor dem Bahnhof anlangten, öffneten sich und spien Fluten von Käufern aus,
die sich sofort in der Fußgängerzone verliefen. Und unter dem Pflaster jagten
die U-Bahnen herbei, entließen unter den ordnenden Stimmen der Lautsprecheranlagen
wiederum Scharen von Käufern, dirigierten sie auf die dicht bestandenen Rolltreppen,
welche die Menschenströme direkt in die Helligkeit des Einkaufsviertels katapultierten.
Und dort mischten sich die Zufriedenen mit den Unzufriedenen, und sie mischten
sich umgekehrt; die Betrogenen vereinten sich mit den Unbetrogenen, und sie
umarmten ihre Betrüger vor Glück, wenn sie in die Boutiquen eintraten, in die
Shops und Drugstores und Galerien, und sie kauften und zahlten, und zahlten
erneut und zeichneten ihre Schecks mit geflügelter Hand. Und wenn sie wieder
auf der Breiten Gasse waren, strahlten sie im Glanz ihrer Liquidität. -
Wolfgang Hilbig, Das Provisorium. Frankfurt am Main 2001 (Fischer-Tb. 15099,
zuerst 2000)
Passantenwalze (3) Anfangs nahmen meine Gedanken eine abstrakte und verallgemeinernde Richtung. Ich sah die Passanten erst nur mehr en masse und dachte über sie als Herden-Ganzes nach. Bald aber ging ich dann zu Einzelheiten über und betrachtete mit minuziösem Interesse die ungezählten Varietäten in Kleidung und Gestalt, in Gangart und Gebaren, Gesicht und Mienenspiel.
Bei weitem die größere Zahl der Vorübergehenden zeigte ein zufrieden geschäftiges Gehaben und schien allein daran zu denken, sich einen Weg durch das Gedränge zu bahnen. Ihre Stirnen waren gefaltet, und ihre Augen rollten quick-behende; wurden sie von Mitpassanten angestoßen, so legten sie keinerlei Anzeichen von Ungehaltenheit an den Tag, sondern ordneten ihre Kleidung und eilten weiter. Andere, eine insgleichen zahlreich vertretene Klasse, waren rastlos in ihren Bewegungen, hatten rot-hitzige Gesichter und redeten und gestikulierten mit sich selbst, wie wenn sie Einsamkeit gerade inmitten der Massen von Gesellschaft rings umher empfänden. Wurden sie aufgehalten in ihrem Lauf, so hörten diese Leute plötzlich auf zu murmeln, doch doppelten sie ihre Gestikulation und warteten, mit einem abwesenden und übertriebenen Lächeln auf den Lippen, daß die Personen, die sie hinderten, doch weitergingen. Und wurden sie gestoßen, so verbeugten sie sich überschwänglich tief vor denen, welche sie gestoßen hatten, und schienen überwältigt von Verwirrung. - Über das hinaus, was ich hier anmerkte, hatten diese beiden großen Gruppen nichts eigentlich Charakteristisches an sich. Ihre Kleidung war von jener Sorte, die man treffend als ‹ anständig › bezeichnet. Sie waren zweifelsohne Adlige, Kaufleute, Advokaten, Krämer und Börsenjobber - die Eupatriden und die Durchschnittler der Gesellschaft - Menschen mit Muße und Menschen, die betriebsam mit eigenen Angelegenheiten beschäftigt waren - die ihren Geschäften auf eigene Verantwortung nachgingen. Sie konnten mir keine sonderliche Aufmerksamkeit abringen.
Auffällig aber zeigte sich die Zunft der Schreiber und Ladendiener; bei ihnen konnte ich zwei bemerkenswerte Gruppen unterscheiden. Da waren einmal die unteren Vertreter, die Handlanger von Kramläden und Hehlernestern - junge Herrchen mit schmucken Röcken, blitzenden Stiefeln, wohlgeöltem Haar und hochmütig aufgeworfenen Lippen. Setzte man eine gewisse Geschmeidigkeit beiseite, die sich in Ermangelung eines besseren Wortes ‹ Ladendienerei › nennen ließe, so konnte man den Eindruck haben, das Benehmen dieser Leute sei ein getreues facsimile dessen, was vor zwölf oder achtzehn Monaten der Gipfelpunkt des bon ton gewesen war. Sie trugen die abgelegten Guten Manieren der Nobelwelt sozusagen auf; - darin liegt, glaube ich, die beste Definition dieser Klasse.
Die Gruppe der höheren Clerks, der ‹ Jungs aus gutem altem Hause ›, soliden Firmen zugehörig, war einfach unverkennbar. Sie erkannte man an ihren auf bequemen Sitz gearbeiteten Röcken und Hosen aus Schwarz oder Braun, an den weißen Krawatten und Westen, dem breiten, gediegenen Schuhwerk und den dicken Strümpfen oder Gamaschen. - Sie alle hatten leicht schon kahle Köpfe, von denen das rechte Ohr, lange als Feder-Halter benutzt, auf eine wunderlich spitzige Weise abstand. Ich bemerkte noch, daß sie ständig mit beiden Händen den Hut abnahmen oder wieder aufsetzten und daß sie Taschenuhren trugen, mit kurzen Goldketten von schwerer alter Arbeit. Sie strahlten etwas ausgesprochen Honoriges aus - gesetzt, man kann dergleichen überhaupt bewußt nach außen zur Schau stellen.
Im weiteren erblickte ich eine Menge flotter Existenzen, die - so ließ sich unschwer erkennen - zu der famosen Rasse der Taschenmarder gehörten, von denen alle Großstädte geplagt werden. Ich betrachtete mir diese feinen Leute mit viel Neugier und fand es schwierig, mir vorzustellen, wie ein echter Gentleman sie auch nur einen Augenblick lang als echte Gentlemen sollte verkennen können. Ihre klotzig-protzigen Manschetten und dazu ihre reichlich dick aufgetragenen Biedermienen müßten sie eigentlich auf dem Fleck verraten.
Die Spieler
und Spekulanten,
von denen ich
nicht wenige
erspähte, ließen
sich gar noch
leichter erkennen.
Sie trugen
alle möglichen
Kostüme, von
dem des rücksichtslosen
Gauner-Louis,
mit Sammetweste,
modischem Halstuch,
vergoldeten
Ketten und
filierten Knöpfen,
bis zu dem
des betont
schmucklosen
Geistlichen,
das natürlich
über jeglichem
Verdachte hocherhaben
war. Doch alle
waren sie kenntlich
an einer gewissen
Dunkelbräune
ihres klitschig
gedunsenen
Gesichts, an
einer schlierigen
Trübe des Blicks
und an den
bläßlichen,
zusammengepreßten
Lippen. Überdem
hatten sie
noch zwei weitere
Charakteristika
an sich, an
denen ich sie
jederzeit entdecken
konnte; - einen
behutsam gedämpften
Ton bei Unterhaltungen
- und die Angewohnheit,
den Daumen
in einer Weise
rechtwinklig
von den andern
Fingern abzuspreizen,
die schon recht
ungewöhnlich
war. - Im Verein
mit diesem
Schwindlervölkchen
bemerkte ich
sehr häufig
eine Sorte
Menschen, die
zwar von etwas
anderem Habit,
doch Vögel
von ganz ähnlicher
Gattung waren.
Man darf sie
vielleicht
als jene Ehrenmänner
definieren,
welche von
ihren Geistesgaben
leben. Sie
scheinen in
zwei Bataillonen
über die Öffentlichkeit
herzufallen
- als Dandys
und als Militärs.
Die Hauptmerkmale
der ersten
Kaste bestehen
aus langen
Locken und
einem permanenten
Lächeln;
die der zweiten
aus Schnürenröcken
und finster
gerunzelten
Stirnen.
- E.A.
Poe, Der Massenmensch,
in: (
poe
)
Passantenwalze (4) Dem ungewöhnten Auge scheint dieses alles ein Zauber; desto mehr Vorsicht ist nöthig, Alles gehörig zu betrachten; denn kaum stehen Sie still, Bums! läuft ein Packträger wider Sie an und rufft by Your leave wenn Sie schon auf der Erde liegen. In der Mitte der Strase rollt Chaise hinter Chaise, Wagen hinter Wagen und Karrn hinter Karrn. Durch dieses Getöße, und das Sumsen und Geräusch von tarnenden von Zungen und Füßen, hören Sie das Geläute von Kirchthürmen, die Glocken der Postbedienten, die Orgeln, Geigen, Leyern und Tambourinen englischer Savoyarden, und das Heulen derer, die an den Ecken der Gasse unter freyem Himmel kaltes und warmes feil haben. Dann sehen Sie ein Lustfeuer von Hobelspänen Etagen hoch auflodern in einem Kreis von jubilirenden Betteljungen, Matrosen und Spitzbuben. Auf einmal rufft einer dem man sein Schnupftuch genommen: stop thief und alles rennt und drückt und drängt sich, viele, nicht um den Dieb zu haschen, sondern selbst vielleicht eine Uhr oder einen Geldbeutel zu erwischen. Ehe Sie es sich versehen, nimmt Sie ein schönes, niedlich angekleidetes Mädchen bey der Hand: come, My Lord, come along, let us drink a Glass together, or I'll go with You if You please; dann passirt ein Unglück 40 Schritte vor Ihnen; God bless me, rufen Einige, poor creature ein Anderer; da stockt's und alle Taschen müssen gewahrt werden, alles scheint An-theil an dem Unglück des Elenden zu nehmen, auf einmal lachen alle wieder, weil einer sich aus Versehen in die Gosse gelegt hat; look there, damn me, sagt ein Dritter und dann geht der Zug weiter. Zwischen durch hören Sie vielleicht einmal ein Geschrey von hunderten auf einmal, als wenn ein Feuer auskäme, oder ein Haus einfiele oder ein Patriot zum Fenster herausguckte. In Göttingen geht man hin und sieht wenigstens von 40 Schritten her an, was es giebt; hier ist man (hauptsächlich des Nachts und in diesem Theil der Stadt (the City):) froh, wenn man mit heiler Haut in einem Neben Gäßgen den Sturm auswarten kan. Wo es breiter wird, da läuft alles, niemand sieht aus, als wenn er spatzieren gienge oder observirte, sondern alles scheint zu einem sterbenden gerufen. Das ist Cheapside und Fleetstreet an einem December Abend.
Bis hieher habe ich fast, wie man sagt, in einem Odem weg geschrieben, mit
meinen Gedancken mehr auf jenen Gassen, als hier. Sie werden mich also entschuldigen,
wenn es sich zu weilen hart und schwer ließt, es ist die Ordnung von Cheapside.
Ich habe nichts übertrieben, gegentheils vieles weggelassen, was das Gemählde
gehoben haben würde, unter andern habe ich nichts von den umcirckelten Balladen
Sängern gesagt, die in allen Winckeln einen Theil des Stroms von Volck stagniren
machen, zum horchen und zum stehlen. Ferner habe ich die liederlichen Mädchen
nur ein eintziges mal auftreten lassen, dieses hätte zwischenjede Scene, und
in jeder Scene wenigstens einmal geschehen müssen. Man wird alle 10 Schritte
angefallen, zuweilen von Kindern von 12 Jahren, die einem gleich durch ihre
Anrede die Frage ersparen, ob sie auch wüsten, was sie wollen. Sie hängen sich
an einen an, und es ist offt unmöglich von ihnen loß zu kommen, ohne ihnen wenigstens
etwas zu schencken. Sie packen einen zuweilen auf eine Art an, die ich Ihnen
dadurch deutlich genug bezeichne, daß ich sie Ihnen nicht sage. Dabey sehen
sich die vorbeygehenden nicht einmal um, da ist liberty und property. So lang
einem dieses neu ist, so lacht man wohl darüber, zumal da die meisten wie Christtags
Puppen gekleidet und, wenn sie wollen und Gehör finden, hundert mal mehr belebt
sind, als manche unserer lebendigen vornehmen Christtagspuppen, hingegen ist
man es ein mal gewohnt, und ist mehr auf seine Geschaffte, als auf dieses Hexenwesen
bedacht, so ist es höchst unangenehm, und kan ich nicht begreifen, warum man
diesem Unheil kein Einhalt zu thun sucht. Ich habe von einigen, die wie Fräuleins
aus sahen, Fragen an mich thun hören, bey welchen ein junger Student durch ein
Sohlendickes Fell roth geworden wäre. - Lichtenberg
an Ernst Gottfried Baldinger, nach (
mehr
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