sten   Der Meister spielte mit dem Gedanken, sich unter den Neun Barbarenstämmen des Ostens niederzulassen.

Jemand sagte: Warum sich solch ungesitteten Leuten aussetzen?

Der Meister sprach: Wo ein edler Mensch sich niederläßt, was sollte da noch ungesittet sein?  - (kung)

Osten (2) Dann sah ich die Menschen des Ostens - sie starrten mich an. Die ganze Länge des Kais war voller Menschen. Ich sah braune, bronzefarbene, gelbe Gesichter, sah die schwarzen Augen, das Funkeln, die Farbe einer östlichen Volksmasse. Und all diese Wesen blickten starr herab, ohne einen Laut, ohne einen Seufzer, ohne eine Bewegung. Sie starrten auf die Boote, auf die schlafenden Männer, die während der Nacht vom Meer hereingekommen waren. Nichts regte sich. Die Palmwedel standen still vor dem Himmel. Kein Zweig rührte sich, das ganze Gestade entlang, und die braunen Dächer verborgener Häuser lugten durch das grüne Laub, durch große Blätter, die schimmernd und still herabhingen wie aus schwerem Metall getrieben. Dies war der Osten der Seefahrer früherer Zeiten, so alt, so rätselhaft, strahlend und düster, lebendig und wandellos,  voller Gefahren und Verheißungen. Und dies waren die Menschen. Ich setzte mich plötzlich auf. Eine Welle der Bewegung lief durch die Menge, von einem Ende zum andern, streifte die Köpfe, wiegte die Leiber, lief den Kai entlang wie ein Kräuseln über das Wasser,  wie ein Windhauch über das Feld - und alles war wieder still. Ich sehe das noch vor mir - den weiten Bogen der Bucht,  den glitzernden Strand,  das strotzende Grün,  unendlich und vielfältig,  das Meer,  blau wie das Meer der Träume,  die Schar aufmerksamer Gesichter,  den Glanz der grellen Farben - das Wasser,  das alles widerspiegelte: die Kurve des Ufers,  den Kai,  die fremdländischen Schiffe mit den hohen Hecks,  die still im Wasser lagen,  und die drei Boote mit den müden Männern des Westens,  die da schliefen,  ohne etwas zu ahnen von dem Land,  den Leuten,  der grellen Sonne. Sie schliefen,  quer über den Duchten liegend oder zusammengekauert auf dem Boden,  unbekümmert wie Tote. Der Kopf des alten Kapitäns,  der sich im Heck des Großbootes zurückgelehnt hatte,  war ihm auf die Brust gesunken,  und er sah aus,  als würde er nie wieder erwachen. Weiter draußen war des alten Mahon Gesicht zum Himmel aufgekehrt,  und sein langer weißer Bart lag ausgebreitet über seiner Brust,  als wäre er dort an seiner Ruderpinne erschossen worden; und ein anderer,  der im Bug des Bootes zu einem Häufchen zusammengesunken war,  umklammerte im Schlaf mit beiden Armen den Stevenkopf und lag mit seiner Wange auf dem Dollbord. Der Osten betrachtete sie lautlos.

Seither habe ich seine Faszination kennengelernt; ich habe die geheimnisvollen Gestade gesehen,  das stille Wasser,  die Länder der braunen Völker,  wo eine tückische Nemesis so vielen der Eroberermächte,  die stolz auf ihren Verstand,  ihre Kenntnisse,  ihre Kraft sind,  auflauert,  sie verfolgt,  sie überwältigt. Doch für mich ist der ganze Osten in jener Vision meiner Jugend enthalten. Er liegt ganz und gar in dem Moment,  da ich die Augen aufschlug und ihn ansah. Nach einem harten Ringkampf mit dem Meer trat ich ihm entgegen - und ich war jung - und ich sah,  wie er mich anblickte. Und dies ist alles,  was davon übrig ist! Nur ein Augenblick; ein Augenblick der Kraft,  der Schwärmerei,  des Zaubers - der Jugend! ... ein huschender Sonnenstrahl über einer fremden Küste,  Zeit genug,  um sich zu erinnern,  Zeit für einen Seufzer,  und - leb wohl! - Nacht! - Leb wohl...!« Er nahm einen Schluck.

»Ah! Die guten alten Zeiten - die guten alten Zeiten. Jugend und das Meer. Zauber und das Meer! Das gute,  starke Meer,  das salzige,  bittere Meer,  das dir zuflüstert und dich anbrüllt und dir den Atem benimmt.« Er tat abermals einen Schluck.

»Bei allem, was da wundervoll ist, es ist das Meer, glaube ich, das Meer als solches - oder ist es die Jugend allein? Wer kann das sagen? Doch ihr hier - euch allen gab das Leben etwas: Geld,  Liebe - was immer man an Land erlangen kann - und, sagt, war das nicht die beste Zeit,  damals,  als wir jung auf See waren; jung waren und nichts besaßen, auf der See, die nichts gibt, außer harten Püffen - und manchmal einer Gelegenheit, die eigene Kraft zu fühlen - ist es nicht das allein, dem ihr nachtrauert?« - Joseph Conrad, Jugend. Frankfurt am Main 1968 (zuerst 1902)

Osten (3)  Er war beleibt wie seine Herrin, und er war beredt wie sie. Er ließ mich kaum zu Worte kommen, begann seine Predigt und sprach so fort, eine gute Stunde lang. „Der Westen hat den Kopf," sagte er, „der Osten aber das Herz." Und die Missis und er selbst und alle die Mystiker und Theosophen des Hindukolleges wollen nun Herz und Hirn verbinden: so werden die reinen Menschen erstehen, die Menschen, die würdig sind, das Paradies auf Erden zu haben. Es ist richtig: der Mann weiß nicht recht, was der Osten ist. Denn der Osten, das ist China, und dessen Kinder haben nur ein Hirn und gar kein Herz und wissen nicht einmal, was ein Herz ist. Aber darum ist es doch wahr, daß sein Land, Indien, den großen Glauben hat. Den heißen, glühenden, gewaltigen Glauben, der vor nichts zurückschreckt, und der für dreihundert Millionen Inder dreihundert Millionen Götter wachsen ließ.  - Hanns Heinz Ewers, Indien und Ich. München 1918 (zuerst 1911)
 

 

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