iemandsland   Drei Stunden lang hatte Maigret das unangenehme Gefühl, in einer Art Niemandsland zwischen Wirklichkeit und Traum zu tappen. War es vielleicht seine Schuld? Bis hinter Lyon, vielleicht bis Montélimar, war der Zug durch einen Nebeltunnel gefahren. Die Frau mit dem kleinen Hund, die dem Kommissar gegenübersaß, hatte sich nicht von ihrem Platz weggerührt, und es gab kein leeres Abteil.

Maigret hatte es sich nicht behaglich machen können. Es war zu heiß, aber wenn man das Fenster herunterließ, war «s zu kalt, und deshalb war er in den Speisewagen gegangen und hatte, um sich aufzumuntern, alles mögliche getrunken. Zuerst Kaffee, dann Cognac und schließlich Bier.

Um elf Uhr hatte er sich gesagt, es sei besser, wenn er etwas esse, und hatte Eier mit Schinken bestellt, die ihn aber auch nicht in bessere Stimmung versetzten.

Kurz, er spürte die Nachwirkungen dieser schlaflosen Nacht im Zug: er war wütend. Von Marseille an schlief er mit offenem Mund in seiner Ecke, und als er von den lauten Rufen: »Cannes!« jäh aus dem Schlaf fuhr, glaubte er zu träumen.

Überall in der grellen Sonne leuchteten Mimosen. Mimosen an den Lokomotiven, an den Waggons, an den Eisenpfosten des Bahnhofs! Und ein Gewimmel von hellgekleideten Reisenden, von Männern in weißen Hosen.

Aus einem Triebwagen stiegen Dutzende von Männern aus, die blaue Mützen trugen und Blasinstrumente unter den Armen hielten. Kaum war er aus dem Bahnhof heraus, da stieß er auf eine andere Musikkapelle, die schmetternde Töne erschallen ließ. Es war eine Orgie von Licht, von Musik, von Farben. Überall Fahnen, Banner, Wimpel, und vor allem goldgelbe Mimosen, die einen süßlichen Duft verströmten, von dem die ganze Stadt erfüllt war.

»Verzeihung, Herr Wachtmeister«, fragte er einen Polizisten, der ebenfalls festlich aussah, »können Sie mir sagen, was hier los ist?«

Der Mann blickte ihn an, als käme er vom Mond.

»Na, es ist doch der große Blumenkorso!«

Weitere Blaskapellen bahnten sich durch die Straßen den Weg zum Meer, das man manchmal pastellblau am Ende einer Straße aufleuchten sah.

Er erinnerte sich später noch oft an ein kleines, als Pierrette verkleidetes Mädchen; seine Mutter zog es ungeduldig an der Hand hinter sich her, sicherlich um einen guten Platz zu bekommen, von dem aus man den Korso in seiner ganzen Pracht sehen konnte. Es wäre nichts Außergewöhnliches gewesen, wenn das kleine Mädchen nicht vor dem Gesicht eine unheimliche Maske mit langer Nase, roten Bäckchen und einem herunterfallenden Chinesenschnurrbart getragen hätte. Seine kleinen, molligen Beine trabten eifrig dahin. - Georges Simenon, Maigret im Luxushotel. München 1977 (Heyne Simenon-Kriminalromane 59, zuerst 1942)

 

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