iemand
Der Dichter mit seinem Niemand
an alle gehorcht nur seinem eigenen Unheimlichen, einer Fremdheit im
eigenen Leib, die ihn selbst überrascht und beschämt. Wie der einfachen
körperlichen Erschöpfung beim Anblick einer
Uhr, fühlt er sich ihren Anfällen ausgeliefert. Im erstbesten Moment, da
sich alle semantischen Bindungen lockern, beginnt er sich interessiert
zu beobachten. Es ist, als würde er seinem Hirn
bei der Arbeit zusehn. Sein Geheimnis ist die irgendwann im Bruchteil einer
Sekunde an der Schädelbasis ankommende Lektion. Mit ihrer Tiefenwirkung
separiert sie ihn von allem anderen Sprechen, das als belangloser Wortschwall
unterhalb der magischen Reizschwelle bleibt und in kürzester Zeit wieder
vergessen ist. Die Art wie sie zu ihm spricht, gleicht der Einflüsterung
unter Narkose, dem rettenden Einfall in katastrophischer Lage, dem ruhigen
Zuspruch des Sanitäters, der ein Schockopfer vor der Aufgabe seiner Lebenskräfte
bewahren soll.
Das Erreichen tieferer Hirnareale, die Markierung in Form einzigartiger
Engramme, das ist sein Ziel, und insofern liegt in Neurologie die Poetik
der Zukunft versteckt. Auf der Jagd nach den Gedächtnisspuren unterwirft
er alle anderen Belange seines Lebens der fixen Idee, nur dafür da zu sein,
ihn an das Kontinuum verdichteter Bilder anzuschließen, darin liegt das
unheilbar Manische seines Tuns. Ein Vers des Kallimachos aus Kyrene bringt
ihm genausoviel Gegenwart wie der Zuruf des Postboten vor der Tür. Aus
den Worten der Freundin hört er vielleicht mehr an Echos heraus, als die
Gefühlsdiplomatie im Augenblick wahrhaben will. So aufmerksam lauscht er
in das Stimmengewirr vieler Zeiten, in die Zitate und Sprachfetzen seiner
Gegenwart, daß die markantesten sich in den innersten Ausläufern seines
Gehörs fangen ... Bis eine Zeile, ein Codewort
die Zusage gibt: Hier stößt du, endlich, auf Grund.
- (
gr
)
Niemand (2) Odysseus verbrachte die Nacht, das Haupt zwischen den Händen, und arbeitete an einem Fluchtplan, während Polyphemos schrecklich schnarchte. Zum Frühstück schlug das Ungeheuer zwei weiteren Seeleuten den Schädel ein. Danach trieb er ruhig seine Herde vor sich hinaus und verschloß die Höhle wieder mit dem gleichen Stein. Odysseus aber nahm einen Pflock von grünem Olivenholz, an einem Ende zugespitzt und im Feuer gehärtet, und versteckte ihn unter einem Misthaufen. Am Abend kehrte der Kyklop zurück und verzehrte wieder zwei der zwölf Seeleute, worauf Odysseus ihm höflich eine Efeuholzschüssel voll des schweren Weines anbot, den ihm Maro im kikonischen Ismaros gegeben hatte; glücklicherweise hatte er einen vollen Weinschlauch an die Küste gebracht. Gierig trank Polyphemos und verlangte eine zweite Schale voll, da er in seinem Leben niemals von einem stärkeren Trank als Buttermilch gekostet hatte. Dann ließ er sich herab, Odysseus nach seinem Namen zu fragen. «Mein Name ist Oudeis», antwortete Odysseus, «oder jedenfalls werde ich kurz so genannt.» Oudeis aber bedeutet ‹Niemand›. «Ich werde dich erst als letzten verzehren, Freund Oudeis», versprach Polyphemos.
Sobald der Kyklop in trunkenen Schlaf gefallen war — der Wein war nicht mit Wasser vermischt worden —, erhitzten Odysseus und seine Kameraden den Holzpflock in der Glut des Feuers. Dann stießen sie ihn in das einzige Auge und bohrten darin herum; Odysseus lehnte sich von oben schwer darauf, wie wenn man ein Bolzenloch ins Schiffsholz bohrt. Das Auge zischte, und Polyphemos stieß einen schrecklichen Schrei aus, der alle seine Nachbarn eilends von nah und fern herbeikommen ließ, um zu erfahren, was nicht in Ordnung wäre.
«Ich bin erblindet und leide furchtbar! Es ist die Schuld von Oudeis» heulte er.
«Armer Kerl!» antworteten sie. «Wenn, wie du sagst, es niemandes Schuld
ist, mußt du dich im Delirium befinden. Bete zu unserem Vater Poseidon
um Genesung und höre auf, solch einen Lärm zu schlagen!»
- (
myth
)
Niemand (3) - Unbekannter Verfasser eines Schwanks.
Die Identität des Autors, von dem die unikal überlieferte, im 14. Jh. im nördl. Elsaß entstandene mhd. Erzählung Die drei Mönche zu Kolmar (404 Verse) stammt, ist nicht geklärt; es kann sich um ein Dichter-Pseudonym oder einen echten Familiennamen handeln. Der Schwank gilt als Musterbeispiel schwarzen Humors.
Die schöne Frau eines verarmten Kolmarer Bürgers
geht nacheinander zur Beichte zu den Dominikanern, Franziskanern u.
Augustinern, wird aber jedesmal mit einem unzüchtigen Liebesantrag konfrontiert.
Ihr Ehemann, dem sie davon erzählt, ersinnt eine List, die
es möglich macht, das gebotene Geld einzunehmen u. trotzdem Rache zu üben. Die
Liebhaber müssen sich jeweils nach Bezahlung vor dem
angebhch heimkehrenden Ehemann in einem mit kochendem Wasser gefüllten Zuber
verstecken u. werden verbrüht. Ein angetrunkener
Student schleppt die drei Leichen in den Rhein, schließlich auch noch
einen vierten, diesmal lebendigen u. unbeteiligten Mönch - gemäß der »Moral«
des Autors, daß eben oft ein Unschuldiger für den Schuldigen büßen müsse. -
Ulla Williams, in: Literaturlexikon. Autoren und Werke deutscher Sprache. Hg.
Walter Killy. Gütersloh / München 1990
Niemand (4) »Wie sieht er eigentlich aus?«
»Ich brenne die ganze Zeit darauf, es Ihnen zu sagen. Er sieht aus wie — niemand.«
»Wie niemand?« wiederholte sie.
»Er trägt keinen Hut.«
Dann, als ich an ihrem Gesicht merkte, daß sie darin mit steigendem Widerwillen die erste Andeutung eines bestimmten Bildes erkannte, fügte ich rasch noch ein paar Züge hinzu.
»Er hat rotes Haar, sehr rot und dicht gelockt, und ein blasses, längliches Gesicht mit geraden, gutgeformten Zügen und kleine, sonderbare, ebenfalls rote Favoris. Die Augenbrauen sind etwas dunkler; sie sind auffallend stark gebogen und bewegen sich ständig. Die Augen sind scharf und seltsam abstoßend. Nur eines weiß ich genau: daß sie eher klein und überaus starr sind. Der Mund ist groß, mit dünnen Lippen; und abgesehen von den kleinen Favoris ist er glattrasiert. Irgendwie wirkt er auf mich wie ein Schauspieler.«
»Ein Schauspieler?« Frau Grose selber war in diesem Augenblick gewiß kein Schauspieler.
»Ich habe noch nie Schauspieler gesehen, aber stelle sie mir so vor. Er ist groß, beweglich, aufrecht«, fuhr ich fort, »und doch nie und nimmer ein Herr.«
Meine Gefährtin war während meiner Worte kreidebleich geworden. Ihre runden Augen starrten mich an, und ihr Mund stand offen.
»Ein Herr?« sagte sie ganz bestürzt, »das soll ein Herr sein?«
»Sie kennen ihn also?«
Sie versuchte sichtlich, sich zu fassen.
»Aber, nicht wahr?, er sieht gut aus!«
Ich merkte, daß sie Ermunterung brauchte.
»Bemerkenswert gut!«
»Und wie ist er angezogen?«
»Er trägt die Kleider von jemand anderm. Es sind elegante Kleider, sie gehören ihm aber nicht.«
Ein zustimmendes Stöhnen entrang sich ihr: »Sie gehören unserm Herrn!« -
Henry James, Bis zum Äußersten. Frankfurt am Main 1962 (zuerst
1898)
Niemand (5)
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- Abraham a Santa Clara, Judas der Ertz-Schelm (zuerst 1686, Auswahl
Darmstadt 1968)
Niemand (6) »Ich weiß nicht,« rief ich ohne Klang,
»ich weiß ja nicht. Wenn niemand kommt, dann kommt eben niemand. Ich habe niemandem
etwas Böses getan, niemand hat mir etwas Böses getan, niemand aber will mir
helfen. Lauter niemand. Aber so ist es doch nicht. Nur daß mir niemand hilft
-, sonst wäre lauter niemand hübsch. Ich würde ganz gern - warum denn nicht
- einen Ausflug mit einer Gesellschaft von lauter Niemand machen. Natürlich
ins Gebirge, wohin denn sonst ? Wie sich diese Niemand aneinander drängen, diese
vielen quer gestreckten und eingehängten Arme, diese vielen Füße, durch winzige
Schritte getrennt! Versteht sich, daß alle in Frack sind. Wir gehen so lala,
der Wind fährt durch die Lücken, die wir und unsere Gliedmaßen offen lassen.
Die Hälse werden im Gebirge frei! Es ist ein Wunder, daß wir nicht singen.«
- (kaf)
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