ittelalter Er
vagabundierte herum, bettelnd, stehlend, Krankheiten vortäuschend,
gelegentlich Dienste für weltliche Herren verrichtend, dann weiterziehend
von Stadt zu Stadt, durch die Wälder und über die großen Straßen. Aus seiner
Erzählung entnahm ich, daß er sich offenbar mit jenen Landstreicherbanden
zusammengetan hatte, die ich im Laufe dieses Jahrhunderts immer häufiger
durch Europa ziehen sah: Vaganten, Scharlatane
und falsche Mönche, Schwindler, Betrüger, Bettler und Strolche, Aussätzige
und Verkrüppelte, kriegsversehrte Landsknechte, Komödianten, Bänkelsänger
und Bauchredner, Falschspieler, Zauberkünstler und Nekromanten, fahrende
Studenten, entsprungene Konventszöglinge, expatriierte Kleriker, schweifende
Juden, den Ungläubigen entkommen mit verwirrtem Geist, Schwachsinnige,
Verrückte, Narren, Verbannte, vogelfreie Gesellen, Sträflinge mit
abgeschnittenen Ohren, Zigeuner und Sodomiten;
dazwischen wandernde Handwerksburschen, Weber und Wollschläger,
Kesselflicker und Kleinschmiede, Stuhlmacher, Korbflechter, Riemenschneider,
Scherenschleifer; das Ganze durchsetzt mit Gaunern
und Spitzbuben, Schuften und Schurken,
Halunken und Taugenichtsen aller Arten und Sparten: Dieben, Schiebern,
Fälschern, Hehlern, Blendern, Lügnern, Zechprellern, Gauklern, Wundertätern
und simonistischen Priestern, Menschen, die von
der Leichtgläubigkeit anderer lebten als
Ablaßhändler, Imitatoren päpstlicher Bullen und Siegel, falsche Gelähmte,
die sich vor die Tore der Kirchen postierten, Reliquienverkäufer, Wahrsager
und Chiromanten, Quacksalber, Kurpfuscher, Handaufleger, falsche Bettler und
schamlose Sittenverderber aller Art, Zuhälter, Huren
und Kupplerinnen, Verführer von Mönchen
und jungen Mädchen mit List oder mit Gewalt,
Simulanten, die allerlei Krankheiten vortäuschten, Wassersucht, Fallsucht,
Hämorrhoiden, Gicht und Zipperlein, Schwären und offene Wunden
oder auch melancholische Geistesumnachtung.
Manche legten sich Pflaster und Binden auf, um unheilbare Geschwüre zu
heucheln, andere nahmen eine schwarzrote Flüssigkeit in den Mund, um
Blutstürze zu simulieren, oder sie täuschten gebrochene Gliedmaßen vor,
indem sie an Stöcken gingen ohne Notwendigkeit, oder sie imitierten Kröpfe
und eitrige Beulen mit Hilfe von safrangetränkten Tüchern um Kopf und Hals,
wieder andere trugen Ketten an ihren Händen, schlichen sich stinkend in die
Kirchen ein und warfen sich auf den Boden, geifernd, Schaum vor dem Mund,
die Augen verdreht, Blut aus den Nasenlöchern
verströmend, das in Wahrheit aus Maulbeersaft und Zinnober gefertigt war...
- Umberto Eco, Der Name der Rose. München 1982 (zuerst 1980)
Mittelalter (2)
Die unbestimmte und
nachhaltige Anziehungskraft, die das Mittelalter immer auf mich ausgeübt hat,
hat mir dieses Bild von einem feudalen, weltabgeschieden lebenden Herrn eingegeben,
der streng, aber im Grunde gutherzig über sein Lehen herrscht. Er tut nicht
viel, hin und wieder gibt es eine kleine Orgie. Er trinkt
Met und guten Wein, überm Holzkohlenfeuer braten ganze Tiere. Zeit spielt keine
Rolle. Man lebt im Inneren seiner selbst. Reisen gibt es nicht. - Luis Buñuel, Mein letzter Seufzer. Berlin, Wien, Frankfurt am
Main 1985