ebensfülle Da
gibt es zum Beispiel die Eintagsfliegen. Gehen Sie
einmal am Abend, bei Sonnenuntergang, in den Garten und setzen Sie sich an den
Teich. Die Eintagsfliegen fliegen zu Abertausenden auf.
Lernen Sie die Lektion, die diese winzigkleinen Geschöpfe uns erteilen. Die
Fülle ihres Lebens dauert nur wenige Stunden. Sie können sich nicht einmal den
Luxus des Nachdenkens gestatten. Sie sind gezwungen, zu handeln. Sie haben keinen
Mund oder nur einen rudimentären. Sie haben nicht einmal ein Verdauungssystem
als solches. Sie brauchen nicht zu essen. In einem Augenblick werden sie die
Energien aufzehren, die sie in den drei oder vier Jahren ihres Lebens als Larve
im Wasser des Teiches gespeichert haben. Alles ist seit Millionen von Jahren
wohlbedacht, Bautista. Der Abend dämmert, und die Eintagsfliegen fliegen empor.
Sie bilden einen dichten Schwärm. Diejenigen, welche das Glück haben, ein Weibchen
zu finden, trennen sich mit diesen von der Gruppe und
paaren sich schweigend. Kein Wort zuviel, kein
Seufzer. Und auch keine Vorwürfe. Keine Versprechen.
Das Leben, das sie gerade erst begonnen haben, ist für sie schon zu Ende. Die
Nacht bricht herein; das Weibchen, mit Eiern beladen, taucht hinab in das Wasser
des Teiches und legt sie ab unter einen Stein. Sie wird nie wieder auftauchen.
- (
marq
)
Lebensfülle (2) «Warum ich die Soutane anbehalte? Darauf kann ich Ihnen nur antworten, daß ich sie nicht ffeiwillig angezogen habe. Aber Sie kennen die Geschichte vielleicht: Ein Onkel von mir, Priester, Pfarrer an ebendieser Kirche, Wucherer und sehr reich, hinterließ mir seine ganze Habe unter der Bedingung, daß sein Erbe Priester werde. Ich war drei Jahre alt, als er starb. Mit zehn, als ich ins Seminar kam, war ich ein heiliger Aloysius, und mit zweiundzwanzig, als ich es verließ, der Satan in Person. Am liebsten hätte ich alles hingeschmissen, aber da war die Erbschaft, da war meine Mutter. Heute mache ich mir nichts mehr aus dem, was ich geerbt habe, und meine Mutter ist tot. Ich könnte also auf und davon gehen.»
«Aber das Konkordat...»
«Mich würde das Konkordat wegen des Testamentes meines Onkels nicht treffen.
Ich bin unter Zwang Priester geworden, darum würden sie mich laufenlassen, ohne
meine bürgerlichen Rechte zu schmälern ... Aber die Sache ist die, daß mir inzwischen
die Soutane bequem geworden ist. Und meine Bequemlichkeit und mein Zynismus
halten einander so vollkommen die Waage, daß mir eine Lebensfülle zuteil wird...»
-
Leonardo Sciascia, Tote auf Bestellung. Zürich 1991
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