rankheit  Karl Wilhelm Stark raunte in seinen Pathologischen Fragmenten, Weimar 1824:

»Sowohl bei niedern als höhern Organismen sehen wir mehrere selbständige Leben, bald bleibend, bald nur vorübergehend, mit einander vereint ... Ein blühender Obstbaum, wo jeder Ast dem ganzen Gewächs, jeder Zweig wieder dem Ast, jedes Blatt dem Kelche und Blüthenblatt, jedes Einzelne dem Ganzen und wieder dem Einzelnen gleicht, wird gesund genannt. Dem schwangeren Thier, als solchem, dem doppelleibigen ungarischen Mädchen, wird ebenfalls Niemand das nämliche Prädicat verweigern. Wenn aber die Rinde des Baumes mit Moos und Flechten bedeckt ist, die Krone statt der eigenen Blüthen, oder neben denselben die der Eichenmispel zeigt; wenn das Thier in der Gebärmutter statt wirklicher Früchte Windeier, Hyatiden, Fleischmolen, oder in andern Theilen des Körpers Würmer beherbergt, so heißen beide, Pflanze und Thier, krank.«

Stark bestimmte Krankheit als »eine in einem Individuum sich entwickelnde, mit dessen Gattungscharakter nicht übereinstimmende und die individuelle Selbsterhaltung beschränkende Lebensform«, als »Hinzuerzeugung eines absolut neuen Lebensprozesses zu dem schon vorhandenen«.  - (par)

Krankheit (2) Die Lese-Anfälle waren wieder und abermals aufgetreten, jetzt zumindestens dem Opfer kenntlich als Anzeichen einer Sucht. Denn sie wurden verborgen wie eine strafbare Handlung, Missbrauch einer Lust; Eingreifen der Behörden dringend geboten. Die Wochenenden schieden aus, da die Voraussetzung des Alleinseins fehlte. Also wurde der gesamte Nachmittag eines Wochentages langfristig im Voraus geplant, indem Schularbeiten vorgezogen oder, wie betrüblich zu erwarten stand, aufgeschoben wurden, zum Zwecke einer Stunden wahrenden Völlerei an Büchern, sogar solchen, auf denen der Blick eines Lehrers hätte mit Billigung ruhen können. Kennzeichnend, dass in fast keinem Fall Tatsachen auf den Druckseiten vorkamen, sondern erfundene, und dass sie wieder und abermals angesehen wurden wegen der Fassung, die die Urheber ihnen gegeben haben.   - Uwe Johnson, Begleitumstände. Frankfurter Vorlesungen. Frankfurt am Main 1980 (es 1019)

Krankheit (3)   Anstatt den geheimen Mechanismus der Ursachen einer Krankheit zu untersuchen, betrachten sie »die Krankheit an sich«, verurteilen sie als einen schädlichen Ausnahmezustand und empfehlen vorweg tausend Mittelchen, sie zu unterdrücken, zu beseitigen, und definieren zu diesem Zweck die Gesundheit als einen absoluten, feststehenden »Normal«-Zustand. Aber die Krankheiten sind da. Wir können sie weder nach Belieben schaffen noch abschaffen. Wir sind ihrer nicht Herr. Sie bilden uns, sie formen uns. Vielleicht haben sie uns gezeugt. Sie gehören zum Tatbestand »Leben«; sie sind vielleicht sein stärkstes Argument. Sie sind eine der zahllosen Offenbarungen der Urmaterie. Sie sind vielleicht die ursprünglichste Offenbarung dieser Materie, die wir ja nur an den Phänomenen der Relation und der Analogie untersuchen können. Sie sind intermediäres Zwischenglied, Übergangsstadium, der Gesundheits-Status von morgen. Sie sind vielleicht die Gesundheit selbst. - (mora)

Krankheit (4)  Krankheit ist vor allem anonym; sie beraubt ihre Opfer der Persönlichkeit und macht .sie zu Gegenständen. Sie ist gleichgültig; und es ist die Kälte dieser Gleichgültigkeit - eine metallische Kälte - die alle, die sie berührt, bis ins Mark ihrer Seele gefrieren läßt. Sie werden nie mehr Wärme finden. Sie werden niemals mehr glauben, daß sie jemand sind.  - Simone Weil, nach: David B. Morris, Geschichte des Schmerzes. Frankfurt am Main 1996

Krankheit (5)   Die meisten Kranckheiten scheinen so individuell zu seyn, wie der Mensch, oder eine Blume oder ein Thier. Krätze, Pocken etc. wird keine Kunst nachahmen können. Viele scheinen mir aber durch die Kunst erregbar zu seyn. Alle wahre Kranckheiten sind erblich - oder epidemisch - oder kürzer organisch - nur durch Erzeugung und Fortpflanzung entstehbar. Daher ist ihre Naturgeschichte, ihre Verwandtschaften (woraus die Complicationen entstehn) ihre Vergleichung so interressant - und wenn man sie auch auf mannichfaltige Art tödten kann, so wird doch nichts wünschenswerther seyn, als ihre gegenseitigen Blutsverwandtschaften und Feindschaften kennen zu lernen, ihre Wohnsitze etc. um sie durch einander selbst zerstören zu lernen.

Viele Kranckheiten sind Irrthümer, die der Mensch erschöpfen muß.  - Novalis, Fragmente und Studien 1799/1800

Krankheit (6) Der Schrift eines Freiherrn von Weizsäcker, die ich in diesen Tagen las, einer kleinen Oase übrigens, entnehme ich, daß man heute innerhalb der Medizin die alte Frage nicht mehr als ganz absurd betrachtet, ob in der Krankheit ein Schuldverhältnis zum Ausdruck kommt. Unter diesem Gesichtswinkel würde dem Schmerz die Rolle eines körperlichen Gewissens zufallen und in seiner künstlichen Betäubung das Ausweichen vor einer Verantwortung zu erblicken sein. Ohne Zweifel besitzt der Gedanke etwa an eine Geburt, die in der Narkose geschieht, etwas sehr Beunruhigendes. In meiner persönlichen Erfahrung verknüpft sich die Erinnerung an eine Schrapnellkugel, die mir, wie ich freilich gestehen muß, gegen meinen Willen, bei Bewußtsein herausgenommen wurde, mit dem Gefühl einer Art von Pflichterfüllung; und dergleichen dürfte bei einigem Nachdenken wohl jeder aufzuweisen haben. - (ej)

Krankheit (7)  Die Krankheiten sind Geschlechter und Arten, lebendige Organismen, die sich im Laufe der Zeit verändern zugleich mit dem Stamme, an dem sie wuchern und von dem sie abhängen. Wie es Krankheiten des Kindesalters, des Jünglings-, Mannes- und Grelsenalters gibt, so auch Krankheiten der Menschheit in ihren verschiedenen Epochen; so daß, kennte man nur die Geschichte der Krankheiten besser, sich an ihrem Charakter das Alter des Menschengeschlechts genau müßte feststellen lassen. Es können deshalb die Beobachtungen des Hippokrates, an sich nicht genug zu würdigen, als an anderen Menschen und anderen Krankheiten gemacht, für unsere Zeit nicht mehr genügen. Allem Anschein nach tritt das menschliche Geschlecht jetzt in die gefährliche Periode des Mannesalters; denn unsere Krankheiten unterscheiden sich von den früheren im allgemeinen durch ihren häufig sensiblen Charakter. Früher hatte der Organismus mehr Einheit und die Seele mehr Kraft, sowohl die einzelnen Organe wie die in ihren Organismus hineinspielende Außenwelt ihrer Alleinherrschaft unterzuordnen; jetzt hingegen ist die Einheit gelöst, vielleicht am meisten durch die Lustseuche, die Generationen in ihren Folgen vergiftete. Die Menschen haben die Innigkeit und Kraft der Triebe, die Einfachheit und Sicherheit des Instinktes verloren und sind doch noch fern von der Klarheit wissender Vernunft. Je komplizierter, reicher und bewegter das äußere Leben geworden ist, desto reizbarer die Seele. Aus der Schwelgerei des Daseins und dem zerstörten Geschlechtstrieb, aus der maßlos gewordenen Temperatur der bis an die letzte Faser aufgeregten Seele entspringen Hirnkrankheiten, ja, alle Krankheiten haben zugleich nervöse Symptome. Wie es nichts Kraftvolles im Menschen mehr gibt, nicht einmal große Laster, kühnen Egoismus, so verlieren sich auch die vehementen Krankheiten: alles beginnt mit Heftigkeit und endet mit Ohnmacht.  - Ricarda Huch, Die Romantik. Blütezeit, Ausbreitung und Verfall. Tübingen 1951, nach Windischmann (zuerst 1899)


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