Als schöner philosophischer Nebeneffekt der Normalität ergibt sich,
dass eine normale Zahl alle beliebigen Texte (geeignet kodiert in Ziffern, etwa
als ASCII) irgendwo in sinnvoller Reihenfolge enthält, also ist irgendwo
dieser Text, diese ganze c't, die Bibel und alles, was je geschrieben worden
ist und geschrieben werden wird, schon in jeder normalen Zahl enthalten — nur
'normalerweise' recht weit hinten. - (c't 17/2001)
Normalität (2) Miss Beswicks Normalität lag in der Tatsache, daß sie nicht begreifen konnte, daß sie tot war, und infolgedessen hing der kalte, dunkle Schatten ihrer Mumie in der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts über Manchester.
Wenn man sie in der Erde begrübe, so argumentierte Miss Beswick, könnte
ihr Tod sich womöglich als Illusion erweisen, als traumloser Schlaf...
Sie hinterließ daher dem Arzt Dr. Charles White und seinen beiden Kindern, Miss
Rosa White und ihrer Schwester, zusammen mit ihrem Vetter Captain White eine
große Geldsumme unter der Bedingung, daß der Arzt
sie jeden Morgen — nach dem, was unbelehrten Leuten als ihr Tod
vorkommen könnte — aufsuchte, um sich von der Wirklichkeit ihres Todes zu vergewissern,
Als sie den letzten Atemzug getan hatte, wurde also die bewegungslose alte Dame
mit dem starren weißen Gesicht und den drohenden schwarzen Augen unter dicken
schwarzen Augenbrauen einbalsamiert und in dem Haus, in dem sie fast achtzig
Jahre gelebt hatte, in den Staub des Dachbodens niedergelegt. Dr. White wohnte
darunter, und die Stille und der Staub des Hauses wurde von Zeit zu Zeit durch
das hastige Verschwinden seiner geisterhaften Kinder und jeden Morgen von der
Stimme des Doktors unterbrochen, wenn er seine stumme, aber wachsame Patientin
untersuchte. - Aus: Edith Sitwell, Englische
Exzentriker. Berlin 2000 (Wagenbach Salto 93, orig, 1933)
Normalität (3) Das meiste Interesse und etwas von dem Entsetzen, das große Verbrechen auslösen, geht nicht von dem Abnormalen, sondern von dem Normalen an ihnen aus; was wir mit dem Verbrecher gemein haben - mehr noch als die schwer deutbare Geistesstörung, die ihn von uns unterscheidet —, läßt uns mit so lebhafter Anteilnahme einen Mitmenschen betrachten, der diese tragischen und tödlichen Gefilde betreten hat.
Ein niedriges Verbrechen wie das des brutalen Kerls, der wegen ein paar Shillingen in der Ladenkasse einer alten Frau den Kopf einschlägt, hat ein niedriges Motiv; ein großes Verbrechen, wie das eines Ehemannes, der seine Frau und seine kleinen Kinder umbringt und anschließend Selbstmord begeht, weil er nur Hunger und Elend als Zukunft für seine Familie sieht, wächst zu einem verzweifelten Protest gegen das Schicksal und sammelt in sich alles, was diesem Menschen noch an Edelmut und Größe geblieben ist. Deshalb gebührt seinem Verbrechen aber nicht mehr juristische Rechtfertigung als dem des Raubmörders; auf keinen Fall. Im Gegenteil, es stellt einen größeren Frevel gegen das Leben dar und ist weit schädlicher in seinen Auswirkungen auf die menschliche Gesellschaft. Dennoch hassen oder verfluchen wir den Urheber dieses Verbrechens nicht - wir bedauern ihn zutiefst; und manchmal ist es sogar möglich, eine gewisse schreckliche Schönheit in dem Motiv zu erkennen, das ihn reinen Tisch mit dieser kleinlichen Welt machen ließ, die dem Vergleich mit einer größeren Welt nicht länger standhalten konnte.
Für ein großes Verbrechen gibt es zumindest Gründe; für ein niedriges Verbrechen aber gibt es höchstens Entschuldigungen.
Das Reich des menschlichen Todes ist kein flaches Feld; es gibt Hügel und
Täler darin, Tiefebenen und Hochebenen; doch auch gewisse schroffe Felsen ragen
vereinzelt daraus hervor, furchtbar in ihrer Vereinsamung, in Stürme und düstere
Nebel gehüllt, aber dennoch fällt dann und wann ein Sonnenstrahl auf sie herab
und enthüllt die wilde Schönheit der Blumen und funkelnden Moose, die sich in
ihren schrecklichen Schrunden verbergen. - Filson Young: Dr. Crippen
an Bord. In: Mary Hottinger (Hg.), Wahre Morde. Zürich 1978
Normalität (4) Es war die Kunst (oder auch die
Philosophie) des Müllkastens. Der Führer dieser «Schule» war ein gewisser Schwitters
aus Hannover, der sammelte alles, was er beim Spazierengehen
oder sonst auf Schutthaufen, in Kehrichttonnen oder Gott weiß wo fand: verrostette
Nägel, alte Putzlappen, Zahnbürsten ohne Haare, Zigarrenstummel, alte Fahrradspeichen,
einen halben Regenschirm. Alles, was der Mensch
als nicht mehr brauchbar weggeworfen, fand in Schwitters einen Sammler
und wurde von ihm auf alten Brettern oder Leinwänden zu kleineren, flachen Müllhaufen
geordnet, geklebt oder mit Draht und Bindfaden befestigt, dann als sogenannte
«Merzkunst» ausgestellt und auch gekauft. Viele Kritiker,
die durchaus mitlachen wollten, priesen diese Art von Fopperei des Publikums
und nahmen sie todernst. Nur das gewöhnliche Volk, das von Kunst nichts versteht,
reagierte normal und hieß die Dadakunstwerke Dreck,
Mist und Müll — woraus sie ja
auch bestanden. - George Grosz, Ein kleines Ja und ein
großes Nein. Sein Leben von ihm selbst erzählt. Reinbek bei Hamburg 1986, zuerst
1955
Normalität (5) Als ich jüngst mit Helga
Fischer ihre Gänseprotokolle eines nach dem anderen durcharbeitete, zeigte ich
mich offenbar etwas enttäuscht darüber, daß sich der von meinem Lehrer
beschriebene Normalfall der absolut und bis über den Tod hinaus getreuen Ehe
unter unseren vielen, vielen Gänsen so verhältnismäßig selten verwirklicht fand.
Darauf tat Helga, über meine Enttäuschung empört, den unsterblichen Ausspruch:
»Ich weiß nicht, was du willst, Gänse sind schließlich
auch nur Menschen.« - Konrad Lorenz, Das sogenannte Böse. Zur Naturgeschichte der Aggression. München
1974 (zuerst 1963)
Normalität (6) "Bei Tieren ist das
normal." (Vögel fressen ihre Jungen, weibliche Spinnen
ausgediente Sexualpartner, Löwenmännchen die Nachkommen ihres Rivalen - ganz
zu schweigen von Fischen und Waranen.) -
TAZ
Normalität (7)
Normalität (8) Dr. Carl Moss war ein großer, dicker Jude mit einem Hitlerschnurrbart, Glotzaugen und der Ruhe eines Gletschers. Er legte seinen Hut und seine Arzttasche auf einen Stuhl und ging durchs Zimmer und sah das Mädchen, das auf der Couch lag, undurchdringlich an.
»Ich bin Dr. Moss«, sagte er. »Wie geht's?«
Sie sagte: »Sind Sie nicht die Polizei?«
Er beugte sich nieder und maß ihren Puls und stand dan° da und sah ihr zu, wie sie atmete. »Wo tut's weh, Miss-*
»Davis«, sagte ich. »Miss Merle Davis.«
»Miss Davis.«
»Mir tut nichts weh«, sagte sie und sah zu ihm hoch. »Ich, ich weiß nicht mal, warum ich eigentlich hier liege. Ich habe gedacht, Sie sind die Polizei. Verstehen Sie, ich habe einen Mann getötet.«
»Nun, das ist ein normaler menschlicher Trieb«, sagte
er. »Ich habe Dutzende getötet.« Er lächelte nicht. - Raymond Chandler, Das hohe
Fenster. Zürich 1975 (zuerst 1942)
Normalität (9) Wie können die Frauen es wagen,
von Normalität zu sprechen? Glauben Sie, Señora, ich wüßte nicht, daß die Frauen
in allen Poren des Körpers Gift destillieren und beweglich sind wie Quecksilber?
Glauben Sie, ich wüßte nicht, daß die Frauen - sogar alte wie Sie - Schamhaftigkeit
und Koketterie zu ihren tödlichsten Waffen machen und erröten, wenn man ihnen
von dem spricht, was sie im Grunde ihres Herzens tun wollen? Wie kann ein Wesen
von Normalität sprechen, das fähig ist, Monstren zu empfangen und Kinder mit
sechs Fingern zu gebären? Ja, ja, meine Dame, Sie haben richtig gehört, ich
habe nichts mehr dagegen, es Ihnen zu gestehen: ich bin es, der sechs Finger
an jeder Hand hat, wie der Protagonist des Romans, von dem Sie mir vorhin erzählt
haben. Es kann sogar sein, daß ich dieser Protagonist bin ... Warum ich sechs
Finger habe, und nicht fünf, wie alle anderen? Ich weiß es nicht, Dona Purificación,
ich weiß es nicht, und es ist mir auch egal. Ich habe nicht die leiseste Vorstellung
von den geheimnisvollen Kräften, die sich während der Schwangerschaft in den
Eingeweiden einer Frau entfesseln. - Javier Tomeo, Der
Löwenjäger. Berlin 1988
Normalität (10)
Normalität (11) - Verachtest du die Tillen genauso wie die Stricher? sagt Goldhämsterlein.
- Eine weibliche Prostituierte ist etwas anderes. Die meisten Stricher sind normal, sagt Wolli.
- Normal, Wolli! Bist du normal? Bin ich normal? Ist Reimar normal? sagt Jäcki.
- Homosexualität ist nicht das Normale, sagt Wolli.
- Du bist verrückt, sagt Jäcki.
- Der Stricher gibt nicht nur vor, einen Liebesakt mit jemandem zu vollführen, den er nicht liebt, wie die Tille, sondern überhaupt begeht er mit einem Mann etwas Unnormales, das er ohne Profit mit keinem anderen Mann begehen würde, sagt Wolli.
- Reimar, bist du normal? sagt Jäcki.
Reimar lächelt wieder! Jäcki legt sich über seinen Rücken und faßt Reimar Renaissancefürstchen mit jeder Hand in eine Hosentasche.
- Das Schlimmste sind die Freier, wenn sie dich angucken von oben bis unten. Du mußt Stöckelschuhe anziehen, weil sie das so von einer Nutte erwarten. Sie fassen dir im Kontakthof in den Ausschnitt und fragen: Für zwanzig Mark - ist das auch nackend? - Oben wollen sie dann noch ohne Präser. Die lek-ken dir über das Gesicht und sagen: O, wie bist du schön. Ach, was für eine Liebe! Und du mußt sie schließlich mit der Gumminille in den Arsch ficken.
- Reimer, bist du normal, sagt Jäcki und fühlt, wie des Renaissancefürstchens Oymel wieder dick wird.
- Geld habe ich dir nie dafür geboten. Ich habe dich eingeladen. Ich habe dir ausgeholfen. Ich hatte doch selbst nichts. Ich war Gammler wie Reimar. Was ich ihm gab, war nie so viel wie die Taxe.
- Wie wir zittern und uns sträuben, hin und herfliehen, vor Scham erröten und ersticken wollen an dem Satz: Ja, ich bin ein Freier, sagt Wolli.
- Los, macht eine Schaunummer, sagt Goldhämsterlein.
- Würdest du dich von Jäcki begatten lassen? sagt Wolli.
- Alles, wenn ich betrunken bin und er entsprechend dafür rausreißt, sagt
Reimar Renaissancefürstchen. - Hubert Fichte, Detlevs
Imitationen "Grünspan". Frankfurt am Main 2005 (zuerst 1973)
Normalität (12) Niemenden kann es verwundern, daß vom letzten Laufburschen (der in ihm den Herrn vom Zimmer 528 sah) bis zu Dr. Musumanno (der ihn überhaupt nicht sah) niemand am Corso Marconi argwöhnte, wer in Wirklichkeit der so normale Ingenieur Vicini war.
Lediglich Signorina Quaglia, die Sekretärin, in die sich Sergio mit den Kollegen
der Zimmer 526 und 530 teilte und die, ohne anzuklopfen, zwischen den Büros
hin- und herging, hatte ihn einmal zu ihrer Verblüffung überrascht und in der
Folge in seiner Gegenwart stets eine Spur von Unbehagen bewahrt. Aber auch sie
hatte in dem Mann, den sie dabei überraschte, wie er am Fenster stehend onanierte,
zweifellos nichts weiter als einen Onanisten gesehen; da sie von den beiden
Tauben auf dem Fensterbrett nichts wußte, hatte
sie den experimentellen, aufs Exhibitionistische
zielenden Charakter des Akts nicht erfaßt, und erst recht nicht konnte sie alles
übrige ahnen ... - Fruttero & Lucentini, Wie
weit ist die Nacht. München 1989
Normalität (13) Im Dozentenzimmer nahm ich den
Guardian in die Hand und las von einem Japs,
der ein Modell ermordet hatte und vierzehn Tage von ihrem Fleisch lebte. Sie
behielten ihn nicht lange im Gefängnis, weil er offenkundig verrückt war. Aber
als sie ihn in ein Irrenhaus einwiesen, schlug er solchen Krach, daß sie ihn
dort auch nicht lange behielten. Warum? Weil die Sachverständigen zu der Überzeugung
kamen, daß er normal sei. Nachdem sie ihn entlassen hatten, sagte er zu einem
Presseberichterstatter: «Mein Aufenthalt in der geschlossenen Abteilung
war die Hölle. Alle anderen dort waren echt bekloppt, aber die Ärzte erkannten,
daß ich nicht wie die übrigen war. Sie sahen, daß ich normal war. Darum ließen
sich mich gehen.» Ich war nicht so sehr bestürzt über das, was dieser Irre sagte.
Was mich wirklich erschütterte, war, was der Reporter sagte. Er sagte, das Bedrückendste
an diesem sonderbaren und einsamen Kannibalen sei die Tatsache, daß er sich
wirklich für normal hielt! - Colin Dexter, Finstere Gründe. Reinbek bei
Hamburg 1996
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