Vorhängeschloß   Beispielsweise, sagte ich, ist einer zu Hause bei seiner Frau und seinen Kindern und hat Verwandte zu Besuch und führt sein gewöhnliches Leben; aber sein Kopf ist in der Weit der Vorhängeschlösser.

Und dort sind Volkszählungen sinnlos, weil die Bevölkerungszahl null ist, oder zumindest hat sie nie jemand zu sehen bekommen, weder aus der Nähe noch aus der Ferne, noch zu hören, nicht einmal beispielsweise von hinten. Die einzige Hypothese ist, daß es sich um durchsichtige und stumme Leute handelt oder Leute, die zur Selbstverteidigung keine Spuren im Gedächtnis hinterlassen. Die Welt der Vorhängeschlösser ist nicht lustig, und im allgemeinen ist man nur mit dem Kopf dort, während der Rest diesseits ist und sein gewohntes alltägliches Leben weiterführt.

Wenn man in der Welt der Vorhängeschlösser ist, muß man weinen, was man freilich nicht sieht. Dafür gibt es auch keine Gründe, es kommt von der Atmosphäre. Vor allem scheint es dort tief hängende Wolken zu geben, oder man scheint sich zu fühlen, als hätte man eine Wolke im Kopf und um die Ohren, die man als Vorhängeschloß benützt. Man kann also nur sagen, daß dort selten der Wind geht und selten Störungen auftreten, und daß die Wolken einfach dem Kopf eines jeden Ankömmlings folgen, als wäre er magnetisiert.

Eigentlich soll man schön langsam dort ankommen; das heißt, man beugt sich schön langsam dort hinüber, und eine Wolke verdichtet sich allmählich um die Stirn, im Gesicht und dann hinten im Genick, was einen niederdrückt; mit der Feuchtigkeit schlüpft sie dann in die Ohren, so daß einer nicht einmal mehr weiß, wo er ist, und vermutet, er sei jetzt dort drüben gelandet.

Aber er kann nur sagen, daß er weder sieht noch hört und daß er nichts mehr versteht. Wenn er mitunter zurückkehrt, hat er nicht einmal etwas zu sagen, außer daß dort eine Feuchtigkeit und eine Trostlosigkeit herrscht, die man sich nicht vorstellen kann. Über die Welt der Vorhängeschlösser ist auf jeden Fall ein Schleier des Schweigens ausgebreitet, der sich kaum lüften läßt.

Einer zum Beispiel war zwölf Jahre lang ununterbrochen dort, aber er kann nichts sagen. Ich fragte, wo er gewesen sei und wie es gewesen sei, und er sagte: »Keine Ahnung.«  - (mond)

Vorhängeschloß (2)  Diejenigen Forscher, die überzeugt davon sind, daß das Reich der Toten winzig klein ist, schreiben, daß sie es des öfteren an bizarren und unwahrscheinlichen Orten entdeckt haben; in einer alten und liegengelassenen Uhr, einem verrosteten Schloß, einem unbenutzbaren Bleistiftspitzer. Mancher, dem es auffiel, daß häufig mechanische Geräte als vermutliche Wohnorte der Toten erscheinen, hat sich vorgestellt, daß die innere Gewundenheit dieser Mechanismen eine schöne und wohlgeordnete Aufteilung der verschiedenen Ränge der Verstorbenen zuläßt. Jedenfalls waren diese hypothetischen Kontakte immer ephemär; nach kurzer Zeit ziehen die Toten um, entweder weil sie entdeckt wurden, oder getrieben von einer inneren Unruhe, ob aus eigenem Antrieb oder gezwungenermaßen, und man verliert jede Spur von ihnen. Man lese zur Erläuterung dieses Sachverhalts folgende Zeugenaussage; »Ich bin sicher, daß ich nicht weniger als achtzehn Minuten hindurch den Sitz der Toten in einem alten Vorhängeschloß oder Sperrschloß wahrgenommen habe; ein zweifellos unwürdiger Ort, aber schließlich als passend bezeichnet von Leuten, die sich mit mehr Recht als ich mit diesen Dingen befassen; ein Vorhängeschloß, ich wiederhole, voller Rost, seit geraumer Zeit nicht in Benutzung, das mit seinem gebogenen Bein an einer Speichertür befestigt war. Eines Morgens, während ich ebendort beschäftigt war, teils aus Gründen häuslicher Betätigung, teils um meiner Lust nach der Totensuche ein wenig zu frönen, im Vertrauen darauf, daß dieser Schrotthaufen von abgelegten und verbrauchten Dingen für Tote auf Wohnungssuche verlockend sein müsse, bemerke ich, indem ich dieses Vorhängeschloß bewege, daß ein durchaus ungewöhnliches Kreischen hervordringt: wie ein Spottlaut, als wolle es mich foppen, aber ohne Hohn; und gleichzeitig ein Jammern, schmerzlich oder flehentlich; als wolle es im gleichen Atemzug sagen: »Dummkopf, siehst du denn nicht?« und: »Warum beachtest du mich nicht?« Da ich die flüchtige und trügerische Natur dieser Wohnstätten wohl kenne, hüte ich mich davor, Staunen, Angst oder Neugierde zu erkennen zu geben. Im Gegenteil, um meine List besser zu übertünchen, sage ich mit halber Stimme - kann sein, daß, wie manche meinen, die Toten etwas harthörig sind: »Dieses Schloß muß geölt werden.« Und indem ich das Schloß seitwärts im Auge behalte, täusche ich anderweitige Beschäftigung vor; und da, gerade als ich wieder vorbeikomme, ertönen erneut Seufzer und Gejammer, die etwas gewissermaßen Rhythmisches haben, wie Psalmodien oder Litaneien; ich nähere mich und mache, immer noch mit beiläufiger Miene, mich daran, das Schloß abzunehmen. Himmel und Hölle! Da drin war die ganze Weltgeschichte, vielleicht alle ihre Sünden. Ich nähere das Ohr dem Schlüsselloch, ich lausche: da, ein wirres Gestöhne vermischter Stimmen, ich werde betäubt von Pfeifen, Kreischen, Röcheln, Röhren, Räuspern und vielleicht abgehackten Silben, Sehnensträngen von toten und vermorschten Lexika, Aschenstaub von Grammatikleichen, hochgeweht und aufs Äußerste hochgewirbelt von einem katastrophalen Miniatur-Orkan; und da schrie ich in das Schlüsselloch, ich schrie: »Wer seid ihr?«: und noch andere Fragen stellte ich, geflüsterte und geschrieene, aber das Ächzen wurde nicht anders, nichts antwortete mir. Schließlich beruhigte sich der Stimmenaufruhr; und innerhalb von kaum mehr als einer Viertelstunde verstummte er ganz. Und als ich das wiederverstummte Schloß abnehmen wollte, ließ es sich leicht wie immer öffnen; als es abgenommen war, fand ich darin nichts, außer den abgenutzten Teilen, Rost und Staub. - Giorgio Manganelli, An künftige Götter. Berlin 1983
 
 

Schloß

 

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