ersteller
Zu den seit 1896 weit verbreiteten ambulanten Kinovorführungen
in Prag und Böhmen gesellte sich 1907 das erste ständige Kino im Haus «Zum Blauen
Hecht» («U modré Štiky») in der Karisgasse 180. Es wurde geleitet von Viktor
Ponrepo, der zusammen mit seinem Bruder mit phantasievollen Postkarten für
seine Vorstellungen warb. Versprochen wurden den Besuchern «Bilder aus dem Leben
und der Welt des Traums», die zu nichts weniger angetan seien, als «alle Bedürfnisse
des Zuschauers zu befriedigen». Den Pragern blieb
dieses kleine Kino vor allem dadurch in Erinnerung, daß die beiden Ponrepo
zwischen den Filmen Zauberkünste darboten und während der Filme als routinierte
«Erklärer» oder «Rezitatoren» auftraten. Sie waren Schauspieler des Schauspiels,
das auf der Leinwand zu sehen war. Sie waren, wie es im Jiddischen heißt, «Versteller».
Der Filmjournalist Ulrich Rauscher hat 1912 in Berlin
den Auftritt eines solchen «Erklärers» festgehalten: «Da war ein Kintop,
ganz beim Alexanderplatz. Ein langer Riemen, gesteckt voll, schaudervolle Luft,
ein atemloses Publikum. Arbeiter, Straßendirnen, Zuhälter, über allem klang
die schmalzige, gefühlvolle, in jedem Wort verlogene Begleirrede des Erklärers.
Der Film war eigentlich fürchterlich langweilig, die banale Geschichte eines
‹Mädchens aus dem Volk›, genannt die Frau ohne Herz, die mit einem vornehmen
jungen Mann verlobt ist, in ihrer Verderbtheit entlarvt wird, zu dem Geliebten
ihrer Jugend, einem Arbeiter zurückflieht, und von diesem verachtet und verstoßen
wird. Langweilig, nicht? Aber was wurde daraus! Der Erklärer dampfte vor reinem
sittlichen Empfinden, er brachte die Worte vom Abschaum der Großstadt wie eine
große Delikatesse langsarn und geschmalzt über die Lippen, er erläuterte das
Seelenleben dieser Personen, er nahm selbst mich, oder meine Gedankentätigkeit,
ganz gefangen und plötzlich sah man: das Weib ohne Herz,
ein Opfer der Hochgestellten, der arme Arbeiter, den sie für gut genug halten,
ihre Geliebten aus dem Schmutz der Gosse zu holen, der arme Arbeiter, ein Hort
der stolzen Ehrbarkeit, der dies Weib den Menschenmördern
dort oben zurückschleudert: die soziale Tragödie jedes Zuschauers, nur daß die
anwesenden Damen meistens nicht den Umweg über die Kommerzienratsbraut
gemacht hatten, sondern gleich in der Gosse geblieben sind... Aber dieses Publikum
will eben ehrbare Arbeiter und moralische Handlungen, nur müssen sie auf dem
Hintergrund frecher Ausbeuter stehen. Der Erklärer schluchzte, das Publikum
ballte die Fäuste, eine ganz, ganz andere Tragödie, als der Filmfabrikant gesehen
hatte, raste vorüber. Aus dem Kintop werden die Revolutionen
der Zukunft kommen. Jeder schmierige, ausrangierte Komödiant, der diesen einträglichen
Mischmasch aus Roheit und Ehrbarkeitsprotzerei vortremoliert, ist Robespierre.»
- Aus: Hanns Zischler, Kafka geht ins Kino.
Reinbek bei Hamburg 1996
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