Polarität  »Hast du«, fragte der Doktor, »jemals an die sonderbare Polarität von Zeit und Zeit gedacht? Und an den Schlaf? Schlaf, den erschlagenen weißen Stier? - Nun gut, ich, der Gewaltige-Doktor-Matthew-Mächtig-cum grano salis Dante-O'Connor, will dir erklären, wie Tag und Nacht eben durch ihre Trennung verwandt sind. Schon die Einrichtung des Zwielichts ist eine mythische Nachbildung der Angst; Angst, bodenlos, auf den Kopf gestellt. Jeder Tag ist vorbedacht und aufgeteilt, die Nacht aber ist nicht eingeplant. Die Bibel liegt in der einen, das Nachthemd aber in der anderen Richtung. - Nacht: ›Hüte dich vor der dunklen Tür!‹«

»Ich dachte immer«, sagte Nora, »daß die Leute einfach schlafen gehn, oder, wenn sie nicht schlafen gingen, ihr Selbst behielten, aber nun -«, sie zündete sich eine Zigarette an, und ihre Hände zitterten, »nun sehe ich, daß die Nacht auf die Identität eines Menschen wirkt, auch wenn er schläft.«

»Ah«, rief der Doktor, »laß einen Menschen sich niederlegen in das große Bett, und seine Identität ist nicht mehr die seine, sein Vertrauen hat ihn verlassen, seine Bereitschaft ist umgewandelt und gehorcht einem anderen Willen. Sein Schmerz ist wild und namenlos. Er schläft in einer Stadt der Finsternis, Mitglied geheimer Bruderschaften. Er erkennt weder sich selbst noch seine Vorreiter, wütet in Dimensionen des Entsetzens und steigt aus dem Sattel - wie durch ein Wunder - ins Bett!

Sein Herz springt in seiner Brust, einem finsteren Ort. Gewiß, einige steigen in die Nacht, wie ein Löffel In leichtes Wasser taucht; andere wieder stoßen, Kopf voran, gegen neuen Hinterhalt. Ihre Hörner geben ein trockenes Knirschen, wie der Flügel einer Heuschrecke, die ihre Haut zu spät im Jahr abwirft.

Hast du an die Nacht gedacht, jetzt, zu anderen Zeiten, in fremden Ländern - in Paris? Als der Straße die Galle hochkam, vor Dingen, die du um keiner Wette willen getan hättest - und wie es damals war? Als Fasanenhälse und Gänseschnäbel gegen die Hechsen der Galane schlugen? -Nirgends Gehsteig oder Pflaster, alles Gosse, meilenweit ein Gestank, der einen schon zwanzig Meilen außerhalb der Stadt an der Nase packte. Die Marktschreier verkündeten Weinpreise zu solch gutem Nutzen, daß die Morgendämmerung auf wackere Schreiberlein voller Pisse und Essig schien. In seitlichen Gassen ließ man zur Ader, dort heulte eine tolle Prinzessin in samtenem Nachtgewand unter dem Blutegel; nicht zu reden von den Schlössern in Nymphenburg; bis nach Wien widerhallten sie vom nächtlichen Wandel verstorbener Könige, die ihr Wasser in Plüschkannen und feinste Holzarbeit abschlugen - nein«, sagte er und sah sie scharf an, »ich sehe dir an, daß du darüber noch nicht nachgedacht hast. Aber tu es! Denn die Nacht gibt es schon lange.«

Sie sagte: »Bisher habe ich nichts gewußt. Ich dachte, ich wüßte etwas, aber so war es nicht.«   - Djuna Barnes, Nachtgewächs. Frankfurt am Main 1981 (zuerst 1936)

 

Gegensatz Spannung

 

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