dentität  Der englische Archäologe Max Mallowan grub zwischen den Weltkriegen das mesopotamische Arpachiyah, berühmt geworden durch seine komplette Töpferwerkstatt, aus. Ein Ire namens Gallagher gehörte zur Besatzung der Station. Er verfügte über phantastische Geschichten, die sich bei Nachprüfung sogar alle als wahr herausstellten. Er gehörte eben zu jener Sorte Menschen, schreibt Mallowans Witwe in ihren Memoiren, denen die unglaublichsten Dinge passieren.

Wie auch immer: Der Ire erzählte von einem Onkel, den in Burma ein Krokodil gefressen hatte. Das Krokodil wurde erlegt, aber man wußte nicht recht, was man mit ihm anfangen sollte. Schließlich hielt es der Neffe für das beste, das Krokodil ausstopfen zu lassen. So geschah es, und man schickte es der Tante zu.

Der Grat zwischen Pietät und Brutalität kann sehr schmal sein. Die Fragen, die zu stellen der Neffe seiner Tante Anlaß gab, können nur als höchst unschickliche Zumutungen qualifiziert werden.

Hatte sie nun den Mörder oder das Opfer im Haus? Alles mußte davon abhängen, wieviel Zeit man dem Krokodil gelassen hatte. Andererseits: Hätte man es noch erschießen dürfen, wenn zu viel Zeit vergangen gewesen wäre?

Nebenbei: Mallowans Witwe schrieb, dieses und anderes, unter dem Namen Agatha Christie.

***

Zwei Monate nach diesem vergeblichen Versuch, eine Reihe von ›Begriffsgeschichten‹ im niederen Verstande in Gang zu setzen, veröffentlichte die FAZ am 23. Januar 1986 den folgenden Leserbrief:

Zu »Begriffe in Geschichten: Identität« von Hans Blumenberg in Ihrer Ausgabe Nummer 275, Geisteswissenschaften: Ich möchte nur eine Richtigstellung der in diesem Beitrag erwähnten Fakten anbringen: Max Mallowans Witwe gibt es zwar, aber sie heißt nicht Agatha Christie, und diese Witwe hat auch nicht ihre Memoiren geschrieben. Das hat Agatha Christie getan, aber Max Mallowan war ihr Witwer, er hat Agatha Christie überlebt und nach ihrem Tod seine Sekretärin geheiratet, die jetzt seine Witwe ist, denn Max Mallowan, der 10 Jahre (etwa) jünger als Agatha Christie war, hat sie nicht sehr lange überlebt. Agatha Christie ist Ende der siebziger Jahre gestorben und ihr Mann Max Mallowan, mit dem sie in 2. Ehe verheiratet war (ihre 1. Heirat endete unglücklich, die Ehe wurde geschieden), starb meines Erachtens Anfang der 80er Jahre.

Ich hoffe, daß Sie die Richtigstellung der Fakten begrüßen, am Sinn des Beitrages ändert sich nichts, es wundert mich nur, daß Agatha Christie daraus nicht einen Krimi gemacht hat.

Annemarie V., Iserlohn

Der dem Hercule Poirot kongeniale Liebhaber der Agatha Christie wird stutzen und sich fragen: Holla! Woher weiß die Schreiberin das so entschieden und doch so raffiniert ungenau? Und dann diese Spitze gegen das kriminalistische Metier im Schlußsatz! Sollte die Schreiberin etwa selbst Mallowans Witwe sein? Und wäre nicht im Grauzellenhirn zu überlegen, ob sie noch mehr zu wissen scheint, als sie sagt, weil sie es war, die verhinderte, daß Agatha Christie Mallowans Witwe wurde? Nach dem von Agatha Christie noch selbst bewirkten Tod des kleinen belgischen Detektivs wird das Rätsel wohl ungelöst bleiben. Es muß genügen, daß es uns auf diesem Umweg noch aufgegeben wurde. - (blum)

Identität (2) HAUPTPERSONEN Wenn ein Verbrechen im Familienkreis geschieht, dann ist dies für Jose Pepe Carvalho, Privatdetektiv und Gourmet, schon ein trifftiger Grund, mürrisch zu werden.
Wenn allerdings alle und jeder in diesem Mordfall über eine Doppelidentität und mehr verfügen, dann muß sich selbst der weltgewandte Privatdetektiv wundern: Weiß er, daß

Ginés Larios Peréz, Seemann, sich nach einer neuen, von allem Unglück befreiten Identität sehnt?
oder, daß
Touron, sein Kapitän, sich von mindestens einer Identität lösen müßte?
während
Narcis Pons Puig als Autodidakt und Katalane sein Leben fast ein wenig zu perfekt meistert; dagegen rettet
Encarnación Rodriguez de Montiel auch der so prägnante Deckname Carol nicht vor ihrem Verderben, durch das
La Morocha, auch unter dem Namen Carmen bekannt, profitieren wird und
El Lebrijano, der wiederum auch Animeo heißt, seine Verwandlungskünste immer gewinnbringend verwerten kann;
nur für
Bromuro, dem Schuhputzer, hat es sich noch nie ausgezahlt, daß er einmal der legendäre Francisco Melgar war.

Charo, Carvalhos Geliebte, und Biscuter, Carvalhos Gehilfe, müssen zwar ohne eine eindrucksvolle Doppelidentität auskommen, aber Ausnahmen bestätigen die Regel. - Manuel Vázquez Montalban, Die Rose von Alexandria. Reinbek bei Hamburg 1987 (zuerst 1984)

Identität (3) Wenig erwähnt wird ein Brief E.T.A. Hoffmanns an Kunz vom 10. Juni 1818, der, in mehreren Abschnitten die Gestalt eines reitenden Männleins rahmend, im ersten Teil folgende Botschaft enthält:

»Geschäztester Freund
Schelten Sie nicht - Toben Sie nicht- Nicht wortbrüchig ist ihr Freund aber seit 3 Wochen liegt er hart darnieder auf dem Rücken - andere Stellung ist nicht möglich - Verhärtung im Unterleibe-edelste Theile angegriffen- Harndrang- überarbeitet zu viel gesessen - Reitpferd anschaffen - Gott gerechter wie wird das aussehn!!« Und in einem sprechblasenartigen Halbrund in Kopfhöhe des Reiterchens dieser Stoßseufzer: »Wils Gott nach dem Thiergarten.«

Klein Zaches mit Hoffmanns Physiognomie. Der äußere Sachverhalt ist klar abzulesen: Hoffmanns Arzt, vermutlich der Geheime Obermedizinalrat C.A.W. Berends, Direktor des ärztlichen Klinikums der Universität zu Berlin, hat seinem verstopften, von einer Leberverhärtung und Leistengeschwulst geplagten Patienten die sitzende Lebensweise abgeraten und ihm reichlich Bewegung, etwa zu Pferd, empfohlen, welche Vorstellung Hoffmann mit einem Selbstporträt als gestiefelter und gespornter Reiter quittiert, das den beherrschenden Zug all seiner Selbstkarikaturen aufweise: die spitze, stark nach unten gebogene Nase und das spitze, stark nach oben gebogene Kinn, zwei Profillinien, die sich, in Gedanken verlängert, zu einer schiefstehenden Ellipse vereinen. Dieses Profil finden wir nun in der Karikaturengalerie, die Hoffmanns Zeichenfeder entstammt, ausgeprägt bei zwei Gestalten wieder: beim Kapellmeister Kreisler, was nicht verwundert, da der Dichter ihn ja als sein Ebenbild ansah, und - beim Kleinen Zaches. Denn Hoffmann, auch graphisch glänzend veranlagt, hat zum Einband der Buchausgabe eine Zeichnung geliefert: Fee Rosabelverde, ihren Zinnober herzend, und das Ungetümchen auf ihrem Schoß zeigt - abgesehen vom flatternden Haar - die Züge seines Hervorbringers. - Kein Wurzelgnom; ein zerquälter Intellektueller, und diese Augen, diese Nase, dies Kinn, und sogar das Haar, im Märchen als »schwarz« und »struppig« beschrieben, gliche dem des Dichters, wäre es hier nicht von der Fee gekämmt. - »Zinnobers Portrait auf dem Deckel ist sehr ähnlich, denn da sonst niemand den Kleinen zu Gesicht bekommen konnte als ich selbst, so verfertigte ich auch selbst die Zeichnung«, schrieb Hoffmann an den Grafen Hermann von Pückler, als er ihm ein Widmungsexemplar übersandte. Diese Passage, bislang nur als humorige Floskel genommen, weist auf mehr hin, als ihr einer ansieht, der nur nach Schlüsselfiguren sucht. Und wie es aussieht, wenn dieses Männlein zu Pferd sitzt, kann sich der Leser aus Hoffmanns Briefzeichnung wie aus Fabians Spott im Märchen ausmalen:

»›Aber sage mir, darf solch ein knorpliger Däumling sich auf ein Pferd setzen, über dessen Hals er nicht wegzuschauen vermag? Darf er die Füßlein in solch verrucht weite Stiefeln stecken? (-) ... ich muß hinein, ich muß den Rumor mit anschauen, den es geben wird, wenn der ritterliche Studiosus einzieht auf seinem stolzen Rosse!‹«

Es ist Hoffmann, der nach dem Tiergarten trabt. - Franz Fühmann, Fräulein Veronika Paulmann aus der Pirnaer Vorstadt oder Etwas über das Schauerliche bei E.T.A. Hoffmann. Hamburg 1980 (zuerst 1978)

Identität (4) Wenn man im Herbst die kleine Welt der Insekten betrachtet und nun sieht, wie das eine sich sein Bett bereitet, um zu schlafen, den langen, erstarrenden Winterschlaf; das andere sich einspinnt, um als Puppe zu überwintern und einst, im Frühling, verjüngt und vervollkommnet zu erwachen; endlich die meisten, als welche ihre Ruhe in den Armen des Todes zu halten gedenken, bloß ihrem Ei sorgfältig die geeignete Lagerstätte anpassen, um einst aus diesem erneuet hervorzugehn; — so ist dies die große ünsterblichkeitslehre der Natur, welche uns beibringen möchte, daß zwischen Schlaf und Tod kein radikaler Unterschied ist, sondern der Eine so wenig wie der Andere das Daseyn gefährdet. Die Sorgfalt, mit der das Insekt eine Zelle, oder Grube, oder Nest bereitet, sein Ei hineinlegt, nebst Futter für die im kommenden Frühling daraus hervorgehende Larve, und dann ruhig stirbt, - gleicht ganz der Sorgfalt, mit der ein Mensch am Abend sein Kleid und sein Frühstück für den kommenden Morgen bereit legt und dann ruhig schlafen geht, — und könnte im Grunde gar nicht Statt haben, wenn nicht, an sich und seinem wahren Wesen nach, das im Herbste sterbende Insekt mit dem im Frühling auskriechenden eben so wohl identisch wäre, wie der sich schlafen legende Mensch mit dem aufstehenden.  - (wv)

Identität (5) Mit dem kleinen Terrier gehe ich gern spazieren. Wir sind dann beide ganz in Gedanken; auch gibt er mir Anlaß, öfter stehenzubleiben, als es sonst einem so verdächtigen Menschen wie mir erlaubt wäre.

Neulich ist es uns aber schlimm ergangen. Ich holte ihn aus einem Hause ab, in dem wir beide fremd waren. Wir gingen eine Treppe hinunter, in die ein Fahrstuhlgehäuse mit Gitterwerk eingebaut war. Ein düsterer Eindringling war dieser Lift in dem einst gelassen breiten Treppenhaus. Und die bauschigen Wappendamen der bunten Fenster sahen irr auf das Wanderverlies, und die Kleinodien und die Attribute lockerten sich in ihren Händen. Sicher roch es auch sehr diskrepant in diesem Ensemble verschiedener Epochen, was meinen Begleiter von Gegenwart und Sitte derart ablenkte, daß er auf der ersten Stufe der steilen Stiege, die zu Füßen des Fahrgehäuses vom Hochparterre hinunterführte, sich vergaß! So etwas, hat mir später meine Freundin versichert, konnte einem so stubenreinen Geschöpf nur in meiner Gesellschaft passieren. Das nahm ich gern hin. Härter aber traf mich der Vorwurf, den mir im Augenblick des peinlichen Ereignisses der Portier des Hauses machte, der zum Unglück gerade, als wir uns vergaßen, die Nase aus seiner Loge steckte. In richtiger Erkenntnis meiner Mitschuld wandte er sich nicht an das Hündchen, sondern an mich. Er zeigte mit grau drohendem Finger auf die Stätte der Untat und herrschte mich an: ›Wat? Sie woll'n ein jebildeter Mensch sint?‹ - (hes)

Identität (6) Im ersten Jahr kam er in Begleitung eines Unbekannten, und im Vorbeigehen warf er seinem Kameraden ein Wort zu, das aber auf mich gemünzt war. Doch weil mir der Mann auf eine unerklärliche Art sympathisch war, wurde ich nicht böse. Das Jahr verging. Er gehörte zu den Leuten, deren Blicken ich gern begegne; und ich sah ihm immer ins Gesicht, jeden Morgen, was seine erste Bosheit neutralisiert haben mußte.

Er sah im Anfang unserer Bekanntschaft wie ein gut erhaltener Fünfziger aus. War schofelig gekleidet, mit Joppe und rundem Hut, aber sah aus, als habe er Besseres zu Hause. Das Gesicht ein dunkles Oval mit Schnurrbart, blauen guten Blicken. Manchmal glaubte ich, ihn früher in diesem Leben gekannt oder wenigstens getroffen zu haben. Riet auf einen vermögenden Künstler, oder einen Kapitänleutnant a. D., denn er rollte und schaukelte etwas beim Gehen.

Im zweiten Jahr geschah etwas, das ich nicht weiß. Ich sah einen bösen Blick, der mich so erschreckte, daß ich für einige Zeit meine Augen abwendete, jedoch ohne auf ihn böse zu werden.

Im dritten Jahr erfuhr ich, daß es der Maler C. war, einer von der alten Schule, nicht eigentlich bekannt geworden. So war er eine Zeit der; ich konstruierte mir sein Schicksal, das vielleicht bitter war, da neue Methoden ihn in den Schatten gerückt; und weil ich unter denen gewesen, die da Steine geworfen hatten, überkam mich eine Art Mitleid, und empfand ich Schuld. Im vierten Jahr erfuhr ich, es sei nicht der Maler C. Nun hätte ja der ganze Homunkulus in sich zusammenfallen müssen, aber es blieb doch etwas vom Künstler und Maler zurück, auch in seiner leichten sorglosen Art, sich zu benehmen. Jedoch wurde er für mich jetzt ein unpersönliches Wesen, ein Spaziergänger, den ich kannte, mit dem ich aber nicht bekannt war. Im fünften Jahr kam ich mit einem Bekannten, den ich auf dem Wege getroffen, die Straße herunter, und nach einer Weile begegneten wir meinem früheren Maler C., aber in Begleitung eines anderen. Mein mitgebrachter Freund grüßte, indem er den Hut zog, und ich machte es ebenso, wie ich es in meiner Jugend gelernt hatte.

- Jetzt will ich die Gelegenheit benutzen, sagte ich, und fragen, wer der Herr war.

- Das war doch Baron H.

- Ach nein, der war das?

Jetzt erwachten eine Reihe von Erinnerungen. Baron H. ging in dieselbe Schule wie ich, aber eine Klasse höher. Er heiratete die schöne Tochter des großen, aber armen Schauspielers X. Sein Vater war unter peinlichen Umständen gestorben. Darauf war der Sohn infolge Verschwendung unter Administration geraten, gerettet worden, und saß nun auf seinem Schloß. Er war nichts, aber malte. Ich erinnerte mich jetzt an ihn, von einer Regatta 1872, bei der er Preisrichter gewesen war und ich Berichterstatter; damals war er mir unsympatisch. Indessen, nach diesem Gruß trat ich gewissermaßen in Kontakt mit ihm; am nächsten Morgen wollte ich wieder grüßen, hielt mich aber zurück. Nun kannte ich ihn, hatte Namen, Charakter, Biographie. So lebten wir unser Leben weiter, und dieser Gruß war fast wie eine Empfehlung für mich, denn mein Freund an dem Morgen war ein geachteter und reicher Mann, ein früherer Offizier.

Das einzige, das ich nicht mochte, war, daß er leise durch die Zähne pfiff, wenn er vorbei ging. Im achten Jahr trat ein Bruch in unserm freundschaftlichen Verhältnis ein.

Mir war nämlich Kummer widerfahren, der größte, der einem Mann widerfahren kann: ich hatte Weib und Kind verloren---

Ich kam gegangen, und als er unmittelbar vor mir war, grinste er breit, so höhnisch, boshaft, daß ich kühl wurde. Und jetzt sah ich zum erstenmal seine Zähne, unter dem Schnurrbart; das war ein böses Tier, das biß. Mich erfaßte solch ein Schrecken vor dem Mann, daß ich ihm eine längere Zeit aus dem Weg ging, wenn er kam. Schließlich suchte ich ihm zu verzeihen, indem ich mir dachte, ich hätte ihn in einer meiner Schriften verletzt, ohne daß ich es wußte oder wollte. Meine Augen aber bekam er nie mehr zu sehen, und es mußte ihn gereizt haben, daß ich ihn nicht mehr ansah, denn sein Pfeifen wurde deutlicher und ging bald in ein Trällern über, wenn er an mir vorbei kam. Jetzt verabscheute ich ihn, und ich fühlte auch mein Unterklassenblut bei dem rohen Grinsen des Barons kochen. So verging noch ein Jahr.

Eines Morgens nahm ich die Zeitung und sah das Porträt des Barons H. mit einem Kreuz darunter. Er war tot! Das machte weiter keinen Eindruck auf mich, sondern war, wie es sein soll, und das Porträt war ähnlich. In jenen Tagen hatte ich aus bestimmten Gründen einen andern Weg für meine Morgenwanderungen gewählt, und konnte also den Toten auf dem Spaziergang nicht vermissen. Nach einiger Zeit aber nahm ich meine alte Route wieder auf.

Was geschieht? Er kommt mir entgegen in seinem gewöhnlichen Trott, wie er leibt und lebt — Nun bin ich viel Ungewöhnliches und Unerklärliches gewohnt, mir wurde also weder bange, noch war ich erstaunt. Schlagfertig, wie ich bin, sagte ich mir: das war ein Irrtum, ganz einfach. Er ist nicht Baron H. Das war der andere! Und ich lächelte!

Noch heute treffe ich ihn, und es ist ganz unpersönlich. Ich weiß nicht, wer er ist; kümmere mich nicht mehr um ihn; habe ihm die Bekanntschaft aufgekündigt. Das Unbegreifliche ist, daß er in diesen zehn Jahren nicht gealtert ist. Ich kann es nicht sehen, aber er gehört zu denen, die alt werden, aber keine Greise. Er behält das Gesicht seiner Jugend, wenn auch die Haut gröber wird und ein Rahmen von Fett das frühere kleinere Antlitz einfaßt.

Eines schönen Tages bleibt er aus, und da weiß ich, daß er tot ist!  - (blau)

Identität (7)  Finanzamt. Herzenslieber! Das Finanzamt - - »Wie? Was? Welch schrecklicher Anfang!« .. Allerdings. So schließe ich denn diesen zu kurzen Brief, grüße Sie alle bestens und - beginne von neuem. Herzenslieber! In Ziegenhain gibt es einen Heinrich Georg Schmidt und einen Georg Heinrich Schmidt. Das Finanzamt frug nun beim Bürgermeister an, ob diese beiden identisch seien, worauf der treffliche Grebe zurückschrieb: Sie söffen beide, ob sie aber identisch seien, das wisse er nicht. - Hans Jürgen von der Wense, Von Aas bis Zylinder, Bd. I. Frankfurt am Main 2005

Identität (8)    Erkrankte der eine, so konnte der andere nicht mehr weit vom Krankenlager sein. Die Menschen ihrer Nähe wußten bald, daß der Stoff, der zum Gedeihen eines Menschen zusammengekommen war, sich schon im Mutterschoße gespalten hatte und zweien verliehen worden war. Nach abermals wenigen Jahren geschahen wunderbare Dinge mit ihnen. Auf der Schulbank konnte der Lehrer sie nicht unterscheiden. Er verwechselte sie. War er doch auch nur mit Augen und Ohren begabt. Auf der Straße wurden sie mit ihrem unrichtigen Namen angesprochen. Sie fanden sich darein, jeder, auch auf den Namen des anderen zu hören. -

Sie erregten sich über den unklaren Zustand, in dem sie sich befanden, und versuchten, sich voneinander zu halten. Sie umschlichen sich nur, berührten sich kaum, damit sie sich nicht in einander verfingen. Trotz vieler Vorsicht und noch größerem Widerstreben begannen sie des Nachts von einander zu träumen. Und es war ihnen, als ob der eine in den anderen überflösse. Aus ihrem Selbst wurde das Du. Ihr Bewußtsein plätscherte mehrmals hin und zurück. Bis sie die Erinnerung an den Namen des Ich verloren hatten. Als sie erwachten, konnten sie vertauscht sein. Es bedurfte einer Aussprache zwischen ihnen, in der sie aufs neue die beiden Namen auf sich verteilten. Trotz so viel sicherer Ordnung blieb ihre Existenz ungewiß. Sie mißtrauten einander nach diesem Traum und wandten sich im Zorn voneinander ab. Heimlich erwogen sie, der eine müßte den anderen töten. Aber plötzlich kicherte es wie Hohn hinter dem Plan: daß sie sich selbst töten würden; und nur der vertauschte andere zurückbliebe. - (jah)

Identität (9)

Identität (10)  Warum will kein Mensch ein anderer sein? Ein anderer vielleicht schon, eine Fortsetzung, eine Steigerung seiner selbst möchte man gerne sein, aber ganz aus dem eigenen Sdiicksal wie aus der abgelegten Schlangenhaut schlüpfen, wirklich ganz und gar der andere sein, wo einem doch die fremden Leiden und Mängel so unvergleichlich krasser erscheinen als die eigene Dürftigkeit, neinl Wir sind an diese Identität gekettet wie an nichts sonst. Angesichts der Fadenscheinigkeit unserer Person und der Welt ist das allerdings eine höchst notwendige Kette, sonst wäre des leichtfertigen Schicksalstauschs wahrscheinlich kein Ende, und wenn man gar dem anderen das seine stehlen und abkaufen könnte, da hätte die Besitzgier erst ihr wahres Objekt. Die großen Kapitäne würden sich die erbeuteten und erschacherten Schicksale wie Skalps um die Dickbäuche hängen. Versuchen tun sie es ja wider alles Naturrecht seit eh und je. Wenn man spürt, daß die Verkettung an die Identität auch eine Krankheit ist, wenn man spürt, daß diese einzige Wurzel, die man hat, einen nicht mehr ernährt, daß sie dem Grund, in dem sie sitzt, mehr Gift als Nahrung entnimmt, oder alle Nahrung in Gift verwandelt, nicht in tödliches, nur so, daß man sich des öfteren ankotzen könnte, wenn man der Fesselung an diese immer gleiche Wurzel überdrüssig wird und schwankt und zerrt und sich auflösen will, weil man alle Bewegungen, die einem möglich sind, schon auswendig kennt, dann hat man neben dem stumpfen oder gleichmütigen Aushalten eigentlich nur noch die Wahl, sich umzubringen.  - Martin Walser, Halbzeit. München 1971 (zuerst 1960)
 

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