wielicht
 

Dämmrung will die Flügel spreiten,
Schaurig rühren sich die Bäume,
Wolken ziehn wie schwere Träume
Was will dieses Graun bedeuten?

Hast ein Reh du lieb vor andern,
Laß es nicht alleine grasen,
Jäger ziehn im Wald und blasen,
Stimmen hin und wieder wandern.

Hast du einen Freund hienieden,
Trau ihm nicht zu dieser Stunde,
Freundlich wohl mit Aug und Munde,
Sinnt er Krieg im tückschen Frieden.

Was heut müde gehet unter,
Hebt sich morgen neugeboren.
Manches bleibt in Nacht verloren —
Hüte dich, bleib wach und munter!

  - Joseph von Eichendorff

Zwielicht (2) Doramin saß allein, riesenhaft und verzweifelt in seinem Lehnstuhl mit zwei Feuersteinschloß-Pistolen auf den Knien und im Angesicht einer bewaffneten Menge. Als Jim auftauchte, wandten sich auf den Ruf eines unter ihnen alle Köpfe um. Die Menschenmasse teilte sich nach links und rechts, und er schritt durch eine Gasse abgewandter Blicke. Geflüster folgte ihm; Gemurmel: »Er hat alles Übel angestiftet.« »Er hat einen Zauber.« ... Er hörte sie - vielleicht!

Als er in den Lichtschein der Fackeln trat, verstummte jäh das Klagen der Frauen. Doramin hob nicht den Kopf, und Jim stand eine Weile schweigend vor ihm. Dann blickte er nach links und bewegte sich mit gemessenen Schritten in dieser Richtung. Dain Waris' Mutter kauerte zu Häupten der Leiche, und das graue aufgelöste Haar verbarg ihr Gesicht. Jim trat langsam herzu, blickte aufseinen toten Freund, hob das Tuch, ließ es wortlos wieder fallen. Dann ging er langsam wieder zurück.

»Er ist gekommen! Ist gekommen!« lief es von Mund zu Mund, und in diesem Murmeln schritt er dahin. »Er hat mit seinem Kopf gehaftet«, sagte eine Stimme laut. Er hörte die Worte und wandte sich der Menge zu. »Ja. Mit meinem Kopf.« Einige Männer traten zurück. Jim wartete eine Zeitlang vor Doramin und sagte dann leise: »Ich komme in Trauer.« Er wartete abermals. »Ich komme bereit und unbewaffnet«, sagte er noch einmal.

Der schwerfällige alte Mann, der seine große Stirn wie ein Ochse unterm Joch senkte, machte eine Anstrengung, sich zu erheben, und umklammerte die Feuersteinschloß-Pistolen auf seinen Knien. Ein gurgelnder, erstickter, unmenschlicher Laut drang aus seinem Mund, und seine beiden Diener stützten ihn von rückwärts. Die Leute bemerkten, daß der Ring, den er aufseinen Schoß fallengelassen hatte, gegen den Fuß des Weißen rollte, und daß der arme Jim auf den Talismann hinabblickte, der ihm das Tor des Ruhms, der Liebe und des Erfolges innerhalb der gischtumkränzten Wälder geöffnet
hatte - hinter der Küste, die unter der westlichen Sonne wie das Bollwerk der Nacht erscheint. Doramin, der sich nur mühsam auf den Beinen hielt, bildete mit seinen beiden Helfern eine schwankende, taumelnde Gruppe; seine kleinen Augen hatten den Ausdruck wütenden, wahnsinnigen Schmerzes, funkelten mit einem wilden Blitzen, das die Umstehenden wohl bemerkten; und dann, während Jim starr und mit entblößtem Kopf im Lichtschein der Fackeln stand, hob er, ihm gerade ins Gesicht blickend und sich mit dem linken Arm schwer auf den Nacken eines der gebückten Jünglinge stützend, bedächtig seinen rechten Arm und schoß dem Freund seines Sohnes durch die Brust.

Die Menge, die sich hinter Jim geteilt hatte, sobald Doramin die Hand hob, stürzte nach dem Schuß in wirrem Gedränge vor. Sie sagen, der Weiße habe den Gesichtern links und rechts einen stolzen, standhaften Blick zugeworfen. Dann fiel er mit seiner Hand über den Lippen nach vorn und war tot.

Und das ist das Ende. Er entschwindet im Zwielicht, unergründlich in seinem Herzen, vergessen, Unverziehen und unerhört romantisch. Auch in den ausschweifendsten Tagen knabenhafter Visionen hat er die verlockende Gestalt solch außerordentlichen Erfolges nicht sehen können! Denn es mag wohl sein, daß er in dem kurzen Moment seines letzten stolzen und standhaften Blicks das Antlitz jener Gunst des Augenblicks wahrnahm, die wie eine Braut des Ostens verschleiert an seine Seite getreten war.

Doch wir sehen ihn, einen unbekannten Ruhmesheld, der sich beim Zeichen, beim Ruf seines begeisterten Selbstgefühls aus den Armen einer eifersüchtigen Liebe reißt. Er verläßt eine lebende Frau, um seine erbarmungslose Hochzeit mit einem schattenhaften Tugendideal zu feiern. Ist er zufrieden - ganz, jetzt? frage ich mich. Wir sollten es wissen. Er ist einer von uns - und bin ich nicht einst aufgestanden, wie ein heraufbeschworener Geist, um mich für seine unverbrüchliche Treue zu verbürgen? Hatte ich denn nach allem so unrecht ? Jetzt, da er nicht mehr ist, gibt es Tage, an denen mich die Wirklichkeit seines Seins mit einer riesenhaften, unwiderstehlichen Macht überfällt; und doch - bei meinem Ehrenwort - es gibt auch Augenblicke, in denen er mir entschwindet wie ein körperloses Gespenst, das unter den Leidenschaften dieser Erde umherirrt, bereit, sich treu dem Ruf aus seiner Schattenwelt zu stellen. - Joseph Conrad, Lord Jim. Frankfurt am Main 1970 (zuerst 1917)

Zwielicht (3)

Zwielicht (4) Ein merkwürdiger kleiner Vorfall trug sich zur Zeit des Zwielichts zu, als die Menschen den ganzen Tag mit Tanzen verbracht hatten und keiner von ihnen mehr einen Fetzen Haut unter den Füßen besaß. Der Präsident gewährte huldvoll eine Tanzpause von fünf Minuten, und alle ließen sich dankbar auf den feuchten Boden sinken. Nach der Pause wurde ein Rundtanz zu Achten angesagt, und ich bemerkte, daß der Herr, der sich Acht Männer nannte, heftig aus einer Flasche schluckte, die er in der Tasche bei sich trug. Als der Rundtanz zu Achten angesagt wurde, warf er die Flasche fort und ging allein zum Tanzplatz. Andere folgten ihm, um ihm beim Tanzen und Stampfen Gesellschaft zu leisten, aber er bedrohte sie zornig, rief, das Haus sei bereits voll, und machte gewalttätige Ausfälle mit dem Stiefel gegen jeden, der ihm nahekam. Es dauerte nicht lange, und er tobte in rasender Wut, die auch nicht zu dämpfen war, bevor man ihm mit einen großen Stein einen schrecklichen Schlag an den Hinterkopf versetzt hatte. Ich habe nie jemanden gesehen, der so kühn, aufsässig und unbändig gewesen wäre wie er, bevor ihn der Hieb erreichte, und so friedfertig und ruhig, nachdem der Alte-Graue-Knabe ihn mit dem Stein niedergestreckt hatte. Kein Zweifel: oft genügen ein paar Worte, um einen Mann vom rechten Weg abzubringen. - Flann O'Brien, Irischer Lebenslauf. Eine arge Geschichte vom harten Leben. Herausgegeben von Myles na Gopaleen. Aus dem Irischen ins Englische übertragen von Patrick C. Power. Aus dem Englischen ins Deutsche übertragen von Harry Rowohlt. Frankfurt am Main 2003 (st 3503, zuerst 1941)

Zwielicht (5)  Es war nicht mehr möglich, die Nacht vom Tage zu unterscheiden, in dem gleichmäßigen grauen Zwielicht konnte man sich nur notdürftig zurechtfinden. Da alle Uhren eingerostet und stehen geblieben waren, fehlte uns jede Zeitberechnung; daher ist es mir auch unmöglich, anzugeben, wie lange sich der Zustand der Auflösung hinauszog. Ab und zu sah man noch ausgemergelte Raubtiere, doch mit eingeklemmtem Schweif und dürren Flanken ergriffen sie bei der Annäherung des Menschen die Flucht. Aus staubigen Winkeln wurden vertrocknete Schlangen gezogen.

Um den Ausbruch einer Seuche zu verhindern, erhielten die Traumstädter den Befehl, alle Kadaver in den Fluß zu werfen. Diese Anordnungen waren nur zum geringsten Teile ausführbar, denn in die baufälligen Häuser wagte sich niemand mehr. Es verpestete Kaninchen- und Schlangenbrut in ihren versteckten Gräbern die Stadt. Aus den Torwegen schlug einem Leichengeruch entgegen. — Von dem Lampenbogenschen Miethause war die obere Hälfte zerfallen, ein langer Steinkamin und eine Rückwand ragten in die Luft. Man sah den Querschnitt der Wohnungen; ein paar Bilder hingen noch auf der geblümten Tapete unseres ehemaligen Schlafzimmers. Durch ein großes, dreieckiges Loch konnte man den schmutzigen Plafond des Staatsgemaches der Prinzessin erblicken.

Die Molkerei war eine Beute des Mauerschwamms geworden; aus Fenstern und Türen wucherte er und deformierte den ganzen Bau, aus den Dachluken hing er in großen weißlichen Lappen.

Das Holzhäuschen des Flußaufsehers brach unter der Last seines zu Moos gewordenen Daches.

Das Kaffeehaus starb wie eine Kokotte, die sich bemüht, den äußeren Schein bis über das Ende hinaus zu wahren. Außen war es scheinbar gut erhalten; aber innen wurde es von den Trümmern des oberen Stockwerkes und des Dachbodens angefüllt. Sonderbarerweise war eine Fensterscheibe unversehrt geblieben, durch die man zwei hohe Ameisenhaufen gewahren konnte. Man sah darin ein paar weiße Knöchelchen, und zwischen beiden stand ein Schachtisch, worauf ein schönes Matt gestellt war.  - Alfred Kubin, Die Andere Seite. München 1975 (zuerst 1909)

Zwielicht (6)  Es wurde im Hause Hosewinckel eine Art Brauch, daß abends, wenn die Damen nähend am Tisch saßen, der Hausherr aus seinem Kontor herüberkam, sich in dem alten Großvaterstuhl niederließ und ihnen eine Geschichte zum besten gab. Bei dieser Gelegenheit focht es ihn auch nicht an, daß seine Frau Zeugin wurde, wie er sich wunderlichen Spintisierereien überließ. In seiner Vorstellung sah es vielleicht so aus, als liefe er mit Malli Hand in Hand in ein Abendzwielicht, eine Dunkelheit hinaus, die nur ihnen beiden gehörte. Es war aber kein unfruchtbares Dunkel; es war die machtvolle Nacht der Nordlichter, und sie war belebt: schwere zottige Bären trabten und schnoben, Wölfe fegten in langen verwischten Zügen durch Schneestürme in den Ebenen, uralte Lappen, die sich auf Zauberei verstanden, kicherten in sich hinein, während sie den Matrosen günstigen Wind verkauften. Der alte Jochum Hosewinckel saß in seinem Stuhl und lächelte, als säße er da in einer Fluchtburg des Lebens, zu der ein schlechtes Gewissen keinen Zugang hatte. - Tania Blixen, Schicksalsanekdoten. Reinbek bei Hamburg 1988 (zuerst 1958)

Zwielicht (7)  Das mystische Moment ist es, was den Menschen im Laufe ihrer Geschichte die Gesundheit erhalten hat. Solange es das Mysterium gibt, bleiben die Menschen gesund; zerstört man es, liefert man sie dem Verfall aus. Der einfache Mensch ist gesund, weil er ein Mystiker ist. Er gestattet sich, im Zwielicht zu leben. Seit jeher steht er mit einem Fuß auf der Erde und mit dem anderen im Feenland. Er hat sich stets die Freiheit genommen, an seinen Göttern zu zweifeln; anders als der heutige Agnostiker aber hat er sich auch stets die Freiheit vorbehalten, an sie zu glauben. Wahrheit war ihm immer wichtiger als logische Konsequenz. Stand er vor zwei Wahrheiten, die sich zu widersprechen schienen, so akzeptierte er beide und nahm den Widerspruch in Kauf. Seine spirituelle Sichtweise ist so stereoskopisch wie seine körperliche: er sieht zwei verschiedene Bilder gleichzeitig, was seiner Scharfsicht aber nur zum Vorteil gereicht.  - G. K. Chesterton, Orthodoxie. Eine Handreichung  für die Ungläubigen. Frankfurt am Main  2000 (zuerst 1908)


Licht Dämmerung

 

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