Penispolitik   Der General nimmt mich beiseite. Wir setzen uns. Das ist ein Zeichen, daß der General zu einem Gespräch aufgelegt ist. Er fängt sogleich an: »Junger Freund! Ich stelle mit Vergnügen fest, daß Sie ein wenig beschwipst und außerdem allein sind, ich meine, nicht in Gesellschaft einer Dame. Dies beweist mir, daß es Ihnen hin und wieder noch gelingt, nüchtern zu sein, jenes beweist mir, daß Sie meistens nüchtern sind, wenn Sie ein wenig beschwipst sind. Heil, Heil und nochmals Heil! Nicht nur das. Ganz besonders stolz macht es mich, daß Sie in Ihrer besten Verfassung meine Gesellschaft suchen. Te Juve-nem laudamus! Daß es in Ihrem Leben Momente gibt, in denen Sie die Gesellschaft eines Greises der eines mehr oder weniger hübschen Mädchens vorziehen, ist für mich ein Zeichen, daß Sie nach Wissen suchen. Unsere Gespräche können ja schwerlich weniger weise sein als jene Bummeleien, die im Schlafzimmer eines Straßenmädchens ihren ebenso traditionellen wie unfatalistischen Abschluß finden. Sobald Sie leicht beschwipst sind, sehen Sie den Unfug dieser Tradition auch ein. In nüchternem Zustand räsonieren Sie zuviel, rein empirisch und auf Grund der Gegebenheiten Ihrer Bohèmewelt. Dann denken Sie: Ohne Beischlaf ist der ganze Rummel umsonst. Wenn Sie jedoch leicht beschwipst sind, ruht Ihr Denken auf einem festen Wissensgrund. Ihr Geist begreift dann die Sinnlosigkeit dieser Penispolitik. Askese wäre in solchem Fall das einzig Richtige. Es ist gut, den Geist ab und zu in ein Narrengewand zu stecken. Man entdeckt dabei seinen Wert, und es tut einem dann leid, mit ihm Schindluder getrieben zu haben. Man begreift besser das Kleinliche und Komische, das an ihm ist. Für Charaktere wie wir, die nicht von Natur zur Askese neigen, ist dies möglicherweise der einzige Weg zum frohen Ereignis der Reue. So wie diese Nacht bis jetzt verlaufen ist, werden Sie wenigstens erkennen, daß Sie grenzenlos dumm gewesen sind und Ihre Dummheit fatal gewesen ist. Der Beischlaf war für Sie ein Mittel, Ihre Dummheit vor sich zu verbergen. Dummheit ist nicht schlimm; die eigene Dummheit nicht zu erkennen, ist sogar ein gewisses Glück, ein tragisches Glück. Soll ich Sie und Ihre Amüsierfreunde beglückwünschen? Weisheit bedeutet in unserer Epoche, die eigene Dummheit zu erkennen. Die angeblichen Asketen entdecken nur ihre eigene Weisheit. Von zwei Menschen, von denen der eine sein Ideal im Beischlaf findet, der andere jeder Versuchung mit ›Hebe dich von mir, Weib!‹ ausweicht und seine aufgestaute Erotik in Hypochondrie umsetzt, ist mir der erste am angenehmsten. Ist der Beischlaf das Kopfkissen der Faulheit - denn er lenkt ja von der eigenen Dummheit ab -, so ist die moderne Askese ein Mangel an Temperament«.   - Paul van Ostaijen, Grotesken. Frankfurt am Main 1967 (es 202, zuerst 1926)
 
 

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