asennatter

Die Nachdenkliche Nasen-Natter, die, um Niemand zu beißen, stets einen Hut auf dem Kopf trug.

  - Edward Lear, Ungereimtes ABC, nach (lear)

Nasennatter ⁽²⁾ Aufblickend wurde er gewahr, daß der Teepavillon völlig verschwunden war und daß er sich in einem Theater befand, mitten unter einer geräuschvollen Zuschauermenge.

Auf der Bühne war gerade ein akrobatischer Akt im Gange; da gab es Speertänzer, Schwertschlucker, Zauberkünstler und was nicht alles. Unter diesen Gauklern fiel ihm eine etwa dreißigjährige Frau auf, die rücklings auf einem hohen Hocker lag. Auf ihren emporgestreckten Beinen balancierte sie einen gewaltigen Tonkrug, den sie auf ihren Füßen wie ein Rad drehte. Da trat ein gut aussehender, junger Mann auf sie zu und lächelte sie an. Sie schien hocherfreut zu sein und gab dem Krug einen Stoß, der ihn hoch in die Luft trug. Dann sprang sie mit bezaubernder Anmut herunter und fing den fallenden Krug in ihren Armen auf. Nach dieser Darbietung wandte sie sich lächelnd an den jungen Mann:

«Nun bist du wieder da, mein Gemahl!» Jetzt kletterte  ein kleines Mädchen  aus  der Öffnung des Kruges, kroch zu dem jungen Mann und hängte sich an seinen Rock.

Gerade als die drei fröhlich miteinander lachten, lösten sich plötzlich die Zuschauer in nichts auf, die Bühne war leer, und Richter Di gewahrte, daß er völlig allein dastand. Ehe er sich indes wundern konnte, erschien auf einmal der alte, graubärtige Herr wieder neben ihm und sprach:

«Den ersten Akt habt Ihr nun gesehen, aber noch nicht den zweiten! Kommt schnell mit mir!»

Ohne dem Richter Zeit zu einer Frage zu lassen, führte er ihn über ein offenbar verödetes, mit Unkraut überwuchertes Stück Land. Ringsherum lag dichter Nebel, durch den geisterhafte Vögel flatterten. Ab und zu stießen sie auf eine Leiche, die zwischen dem Unkraut lag.

Plötzlich erblickte Richter Di eine nackte, grünliche Leiche. Eine hellrote Natter kam aus einem ihrer Nasenlöcher gekrochen und schlängelte sich auf den Richter zu.

Richter Di erschrak furchtbar, aus allen Poren brach ihm der Schweiß aus, und er erwachte.  - Robert van Gulik, Merkwürdige Kriminalfälle des Richter Di. Zürich 1998