Rot  Engadine kam aus der Küche. Sie trug ein mit Nachtigallen gefülltes Spanferkel auf. Schreiend blieb sie stehen. Vor ihr stand eine weiße, triumphierende Erscheinung und versperrte den Gang.

»Engadine!«

»In drei Teufels Namen, Fräulein Juniper!«

»Wie rot du bist, Engadine!«

Die Magd wich zurück. Die Erscheinung setzte ihr hüpfend nach.

»Ich komme aus der Küche«, sagte Engadine. »Es ist heiß in der Küche.«

»Ich hingegen bin ganz weiß, ganz weiß, Engadine. Weißt du warum? Verstehst du dieses gespensterhafte Weiß?«

Wortlos schüttelte Engadine den Kopf.

»Nun ja, weil ich niemals Licht sehe ... Jetzt brauche ich etwas, liebe, kleine Engadine.«

»Was denn, was denn?«, stammelte das Dienstmädchen. Und sie zitterte so sehr, dass ihr das Ferkel zu Boden fiel und der Teller in tausend Stücke zersprang.

»Du bist so rot ... so rot...«

Bei diesen Worten stieß Engadine einen langen grässlichen Schrei aus, der wie der Schrei einer Sirene klang. Juniper sprang sofort. Sie wälzten sich am Boden, Juniper zuoberst, den Mund auf Engadines Hals gepresst.

Sie saugte und saugte viele Minuten lang, und ihr Leib schwoll gewaltig an, er wurde strahlend und prachtvoll. Ihre Federn glitzerten wie Schnee in der Sonne, ihr Schwanz schimmerte in allen Farben des Regenbogens. Sie reckte den Kopf in die Höhe und krähte wie ein Hahn. Und dann versteckte sie den Leichnam in der Schublade eines Möbelstücks.  - (wind)

Rot (2)  Im ROT ist Brausen und Glühen, mehr in sich als nach außen, männliche Kraft. Helles warmes Rot wirkt entschlossen, laut triumphierend wie Fanfaren; Zinnober ist wie gleichmäßig glühende Leidenschaft, Tubaton und starke Trommelschläge, durch Blau wird es gelöscht wie heißes Eisen durch Wasser, es entsteht Schmutzton, der aber auch seinen besonderen Klang hat. Aus Zinnober mit Schwarz entsteht Braun, in dem das Rot noch wie kaum hörbares gewaltsames Brodeln wirkt. Krapplackrot läßt sich sehr vertiefen, wodurch seine Glut wächst, wie auf der Lauer liegend zu einem wilden Sprung, es klingt wie leidenschaftliche mittlere und tiefe Cellotöne. Aufgehellt wird es jugendlich, freudig, klingt wie klare singende Töne der Geige1 oder kleine Glöckchen.  - Wassily Kandinsky, nach: Walter Hess (Hg.), Dokumente zum Verständnis der modernen Malerei. Reinbek bei Hamburg 1964 (rde 19)
 
 

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