Meergott

 Sieh! Durch die Fluten gerauscht, der neue Bewohner der hohen
See, in Anthedon neulich, der Stadt bei Euboea, verwandelt,
Glaucus ist da, und gebannt von Verlangen beim Anblick der Jungfrau,
spricht er Worte, von denen er glaubt, sie könnten ihr
Fliehen hemmen. Aber sie flieht; und von Angst beflügelt
erreicht sie rasch die Höh eines Berges, der nahe dem Strande gelegen.
Knapp vor den Fluten wölbt sich, bewaldet, geschlossen zu einer
Spitze, sein mächtiger Gipfel der Weite der Wasser entgegen.
Hier verhält sie und zweifelt, von sicherem Platz ihn betrachtend,
ob er ein Unhold oder ein Gott. Sie bestaunt seine Farbe,
staunt ob der Mähne, die Schultern und Rücken darunter bedeckt,
und daß der gewundene Fischschwanz des Leibes Ende ihm einnimmt.
Glaucus fühlt es und spricht auf den Felsen gestützt, der zunächst steht:

„Jungfrau, ich bin kein Wundergeschöpf, kein grimmiges Untier,
sondern ein Gott der See. Nicht Proteus hat in den Wassern
höheres Recht, nicht Triton, Palæmon, des Athamas Sohn, nicht.
Sterblicher aber war ich zuvor. Doch von jeher dem hohen
Meere verfallen, machte an ihm ich mir immer zu schaffen.
Denn bald zog mit dem Netz die Fische ich ein, auf dem Felsen
sitzend führte ich bald mit der Rute die Leine der Angel.
Nah einer grünenden Wiese ein Strand. Ihn begrenzen auf einer
Seite die See, auf der andern die Kräuter, die niemals die hörner-
tragenden Rinder mit Bissen verletzt, die ihr nicht, ihr sanften
Schafe, geweidet und ihr nicht, ihr zottigen Ziegen. Dorther
trug nie eine fleißige Biene zum Stock den gesammelten Nectar,
ward kein heiterer Kranz einem Haupte geschenkt, und es schnitt sie
nie eine sichelbewaffnete Hand. Ich saß auf dem Rasen
dort als der erste, als einst ich trocknete triefende Netze.
Und, die gefangenen Fische in guter Ordnung zu mustern,
legt' auf der Wiese ich aus, was teils in die Netze der Zufall,
teils sein arglos Gemüt an den Haken der Angel gebracht hat.

Wenn es erdichtet auch scheint, — doch was sollte Erdichten mir nutzen?-
Als das Grün sie berührt, beginnt meine Beute zu zucken,
schnellend die Seite zu wechseln, am Land wie im Meer sich zu regen.
Während ich zaudere und mich wundere, flieht die gesamte
Schar in ihr Naß und verläßt den neuen Herrn und die Küste.

Ich war erstaunt und zweifelte lang, nach dem Grunde mich fragend,
ob dies irgend ein Gott, ob's der Saft gewirkt eines Krautes.
„Doch welch Kraut", so fragt' ich, „hat diese Kräfte?" und pflückte
etwas davon mit der Hand und biß darauf mit den Zähnen.
Kaum hat die Kehle noch recht von dem fremden Safte gekostet,
als mein Geweide plötzlich im Innern erzittern ich fühle
und ein Verlangen nach anderer Art die Brust mir erfaßte.
Bleiben konnte ich nicht. „Die ich nie soll wieder betreten,      
Erde, leb wohl!" so rief ich und tauchte den Leib in die Fluten.

Meergötter nahmen mich auf, sie würdigten mich, von den Ihren
einer zu werden, und baten Ocean' und Tethys zu tilgen,
was ich an Sterblichem trüg'. Von diesen ward ich geweiht, und,
als mir neunmal ein Spruch, der von Schnödem mich reinte, gesprochen,
ward ich geheißen, die Brust unter hundert Flüsse zu halten.
Ohne Verweilen werden von allen Seiten heran die
Ströme, der ganze Schwall der See übers Haupt mir geflutet.
Soweit kann ich dir noch Erinnerungswertes erzählen,
soweit erinnre ich mich. Das Weitere fühlte mein Geist nicht.
Als er zurück mir gekehrt, da fand ich mich anders am ganzen
Leib, als zuvor ich gewesen, und nicht als den Gleichen im Geiste.
Damals sah ich zuerst den grünspanschimmernden Bart hier, hier meine
Mähne, die jetzt durch die Weite der Fluten ich schleife,
hier die gewaltigen Schultern, die bläulichen Arme, die Schenkel,
wie sie sich krümmend enden im flossentragenden Fischschwanz.

Doch, was nutzt die Gestalt hier, Gefallen-zu-haben den Meeres-
göttern, ein Gott zu sein, wenn du davon nicht gerührt wirst!"

Während er redet und mehr zu reden gewillt ist, verläßt die
Jungfrau den Gott. Er rast, und im Zorn, verschmäht sich zu sehen,
eilt er zum Zauberhaus der Tochter Titans, der Circe.

  - (ov)

Meergott (2)  Er beherrschte, unter welchem Namen immer, unsere Meere früher als Poseidon und war vor dem noch früheren, hundertarmigen Meerbeherrscher, dem Briareos, durch seine Weisheit und Wahrhaftigkeit ausgezeichnet.
Man höre Hesiod über ihn: »Den Nereus, der nie lügt, sondern immer die Wahrheit sagt, hat Pontos als ältestes Kind gezeugt. Eben darum nennt man ihn den Alten; weil er nämlich wahrhaftig ist und gütig. Nie weicht er von dem ab, was sich ziemt, vielmehr hat er Gerechtigkeit und Güte im Sinn.« Er war der Vater von fünfzig Töchtern, die ihm Doris, die Okeanine, gebar, lauter Göttinnen des Meeres. - (kere)

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