Locken, blonde   »Sie müssen wissen«, erzählte der Reisende, »daß mein Vater als Kind so wundervolles blondes Haar hatte, daß er eher wie ein niedliches kleines Mädchen aussah. Leider war es damals üblich, daß die kleinen Jungen beinahe kahlgeschoren wurden. Meine Großmutter mußte schließlich nachgeben und die leichten glänzenden Locken der Schere des Familienfriseurs opfern. Aber sie brachte es nicht über sich, sie verbrennen zu lassen. Im Gegenteil, sie hob sie alle nach und nach, wie sie unter der Schere fielen, liebevoll vom Boden auf, steckte sie in einen Umschlag, versah ihn mit dem Datum und bewahrte ihn mit den Dingen auf, die ihr lieb geworden waren. Das beeindruckte den kleinen Jungen so sehr, daß ihm augenblicklich ein Plan in den Sinn kam, an dessen Ausführung er sein Leben lang festhielt.«

»Ich glaube zu verstehen, daß...«

»Ja, sein ganzes Leben sammelte mein Vater sein eigenes Haar. Jedesmal, wenn er zum Friseur ging, immer zu demselben, siebenunddreißig Jahre lang, hob er sein Haar vom Boden auf, steckte es in einen Umschlag, schrieb darauf das Datum und jeglichen anderen nützlichen Umstand. Zum Beispiel: Geschnitten zur Hochzeit von Onkel Filippo, Schnitt zur Verlobungsfeier meines Freundes L. M. und so weiter. Es hat keinen Sinn, wenn ich Sie mit allzu vielen Einzelheiten langweile. Bedenken Sie lieber: Das ganze Leben eines Mannes dokumentiert durch sein Haar, zuerst blond, dann hellbraun, schließlich immer grauer. Und jedes Haar wer weiß wie viele Geschichten: Krankheiten und Emotionen, Ereignisse im persönlichen Leben, vielleicht auch im Leben der Nation oder der ganzen Welt. So wissen wir, daß sich mein Vater genau an dem Tag die Haare schneiden ließ, an dem Italien 1940 in den Krieg eintrat. Glauben Sie nicht, daß sich aus seinen abgeschnittenen Haaren eine Wirkung jenes dramatischen Tages erkennen ließe?«

»Vielleicht ein Spezialist, ein Wissenschaftler könnte...«

»Ich habe die Sammlung meines Vaters schon verschiedenen Universitäten angeboten, zu wissenschaftlichen und menschenfreundlichen Zwecken. Aber es sieht aus, als wäre das Interesse an solchen Dingen nun schon ganz geschwunden.«

»Apropos«, unterbrach ich ihn, »Sie haben von siebenundddreißig Jahren gesprochen. Ihr Vater hat also schon in jungen Jahren mit dem Sammeln aufgehört?« Der Reisende seufzte.

»Mit zweiundvierzig«, sagte er, »bekam mein Vater eine Vollglatze, ohne jeglichen Grund. Er war untröstlich über diesen grausamen Scherz des Schicksals, das offenbar dann und wann dem Sammlergeist mit Vergnügen einen Streich spielt. Bald darauf wurde er krank und starb.«    - Gianni Rodari, Das fabelhafte Telefon. Wahre Lügengeschichten. Berlin 1997 (Wagenbach Salto 65, zuerst 1962)

Locken, blonde (2)

 

 

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