nthropomorphismus
Wahrscheinlich die jämmerlichste aller Selbsttäuschungen der
heutigen Erforscher primitiver Glaubensvorstellungen ist ihre Ansicht über
das, was sie als Anthropomorphismus bezeichnen. Sie meinen, die primitiven
Menschen hätten Erscheinungen, um sie zu
erklären, einem menschengestaltigen Gott zugeschrieben,
weil ihr dumpfer Geist außerstande gewesen sei, über die eigene, krude
Existenz hinauszugelangen. Sie hätten den Donner als menschliche Stimme,
den Blitz als menschliches Augenlicht bezeichnet, weil beides durch diese
Erklärung verständlicher und weniger beunruhigend erschienen sei. Um jemanden
von dieser Ansicht ein für allemal zu heilen, ist es das beste, ihn nachts
eine dunkle Straße entlanggehen zu lassen. Der Betreffende wird sehr rasch
erkennen, daß das Halbmenschliche, das die Menschen hinter den Dingen gewahrten,
nicht etwas Natürliches, sondern etwas Übernatürliches war und die Dinge
nicht verständlicher machte, sondern hundertmal unverständlicher und geheimnisvoller
werden ließ. Denn ein Mensch, der nachts eine Straße entlanggeht, wird
der ins Auge springenden Tatsache gewahr, daß die Natur, solange sie in
ihren Grenzen bleibt, keinerlei Macht über uns hat. Solange der Baum
ein Baum ist, ist er ein kopflastiges Ungeheuer
mit hundert Armen, mit tausend Zungen
und mit nur einem Bein. Aber solange der Baum ein
Baum ist, jagt er uns nicht den geringsten Schrecken ein. Etwas Fremdartiges,
etwas Absonderliches wird er erst dann für uns, wenn er anfängt, auszusehen
wie wir selbst. Wenn ein Baum tatsächlich wie ein Mensch aussieht, zittern
uns die Knie. Und wenn die ganze Welt aussieht wie ein Mensch, werfen
wir uns anbetend nieder. - Gilbert Keith Chesterton, Ketzer.
Eine Verteidigung der Orthodoxie gegen ihre Verächter. Frankfurt am Main
2004 (it 3023, zuerst 1905)
Anthropomorphismus (2)