asser,
seltenes
Es war in der Woche nach Heiner Müllers Rückkehr aus Verdun. Er
sehnte sich nach Brei. In Kantinen und Gaststätten gibt es das nicht. Deshalb
entstand der Plan, sich nach Baden-Baden in ein Kurhotel umzuquartieren, wo
es vielleicht bekömmliche Breikost gäbe. Es ging um Hörensagen. Nachts schlief
er nicht, war tags schläfrig.
In einer der langen Wartezeiten, die der Dichter
in der generösen Hotelhalle verbrachte, trat ein Mann auf ihn zu, dessen Name
Müller aus der akademischen Warteschleife der neuen Bundesländer zu kennen glaubte.
Zunächst hielt er diesen Mann für verrückt. Das bezog sich vor allem auf die
Bitte zur Zusammenarbeit. Der Dramatiker sqlle mit ihm, einem Techniker, Wissenschaftler
und Geschäftsmann, eine Handelsgesellschaft gründen und diese durch die Herstellung
poetischer Texte unterstützen. Den Gewinn, schlug der Gesprächspartner vor,
sollten sie teilen.
In Baden-Baden halte er sich auf, berichtete der Mann,
weil hier in unterirdischen Zisternen noch Wasser aus dem vorigen Jahrhundert
aufbewahrt werde; Wasser, wie es Dostojewski bei seinen Besuchen noch
benutzt habe. Die Qualität sei jedoch enttäuschend, kaum anders als heute. Ganz
andere Geheimnisse enthielten die verschütteten Kanalsysteme des Irak, die ein
Dr. Ing. H. Grapp erforscht und katalogisiert hätte. Zu erwähnen seien auch
die Tiefwasserschläuche zwischen Spitzbergen und Grönland, unsichtbar im Meer
verborgen, aber versehen mit Wasserqualitäten von großer Dichte. Eine Singularität
sei H2O-20. Er habe das aus Unterlagen der Akademie der Wissenschaften
der UdSSR, aber auch aus solchen der Labors des Wirtschaftsamts im Reichssicherheitshauptamt
(RSHA) ermittelt; im übrigen seien die Berichte von der Staatssicherheit archiviert
worden. Zu dem Bestand gehöre das vollständige Verzeichnis aller unterirdischen
Gewässer Böhmens und Mährens mit besonderer Dokumentierung ihrer Qualitäten,
Fließrichtung, Schwingung, ja der verschiedenartigen Heiligkeit des Wassers,
insgesamt 620 Seiten.
Die Bewertungsskala bewege sich zwischen 1 bis 12.
Ob Müller ihm folge? Der nickt. Er mußte ohnehin warten. Gewässer mit Bewertungszahl
12, fährt der Geschäftsmann fort, können als unbezahlbar gelten. Sie entstehen
auf dem Planeten aufgrund gewisser Schichtungen des Gesteins nur in drei oder
fünf Falten; z.B. im Pamir, von dort aber schwer abzutransportieren, da solches
Wasser sich durch den Transport verändert. Nun stellte sich der Mann vor, gab
Müller seine Visitenkarte. Er hieß Prof. Dr. F. Wilde.
In dem provisorischen
Zustand zum Tode hin, in dem sich der Dramatiker befand, sind die persönlichen
Verteidigungsmittel eines Menschen gegenüber der Willenskraft Dritter nicht
besonders stark. Es gab nichts, was der Dramatiker sich nicht anhörte, was er
nicht »geschehen« ließ. Ja, dieser »Mann der unerschütterlichen Ruhe« verfügte
in seinem Kern (von dem er sich nährte; wenn die physische Nahrung ausbleibt,
so tritt auf kurze Zeit die metaphysische an ihre Stelle) über einen Rest von
VORSTELLUNGSKRAFT. Geschäftsmann war er nie gewesen, er strebte es auch für
die kurze Rest-Zeit nicht an. Es erwies sich aber, daß der aus seinem Amt vertriebene
Forscher der früheren DDR (weitgehend unbefugt, unter höchster Geheimhaltung)
ein Staatsgeheimnis hütete. Das Geheimnis bezog sich auf äußerst seltene Wasser,
eine Sammlung von Proben in winzigen Reagenzgläsern. Eine einzelne Abteilung
des untergegangenen Staatswesens hatte diesen Schatz angesammelt. Prof. Dr.
F. Wilde, der zu den Sammlern gehört hatte, hatte das herrenlose Gut an sich
genommen.
Die Altseen der Sahara. Es gibt zwölf solcher Seen. Mit einem Alter von 66 Millionen Jahren. Nur an der Oase Bisra gibt es eine Höhle, die Zugang zu einem dieser Seen gewährt. Der Zugang wurde auf Veranlassung des Afrika-Korps 1943 versiegelt, ehe die Briten Libyen einnahmen. Die Wasserproben enthielten Getier, das auf dem Planeten unbekannt ist. Das Wasser hatte einen »blutähnlichen Geschmack« und stillte den Durst eines durchschnittlichen Trinkers um 23 % schneller und vollständiger als das Einheitsdestillat nach DIN Reichsnorm, das wir als Trink-Wasser bezeichnen. Gelingt eine »Hebung« dieser Seen dadurch, daß eine Betonmasse unter dem Seegrund (in 21 km Tiefe) eingelassen wird, die den See-Grund gegen den mobilen Erdmantel abschirmt, den See andererseits in Bodennähe drückt, so wäre das Wasser förderbar. Solange es unter der Oberfläche der Sahara liegt, versalzt es nicht. Mit diesem Wasservorrat ist eine Klimaänderung in Nordafrika möglich, die die Zustände zur Zeit des TETHYS-MEERES wiederherstellt. Ein Projekt der Achse, geplant für 1952. Von DDR-Wasserbauingenieuren 1972 nachrecherchiert. Vermutlich Absturzgrund des Hubschraubers des Politbüromitglieds Lambertz. Verschlußsache.
Zur Gründung des gemeinsamen Geschäftsunternehmens kam es nicht mehr. Der
Dramatiker hatte jedoch seine Einschätzung des seltsamen Gefährten vollständig
verändert. Er sah in Wilde, der etwas so Elementares wie das Wasser auf Seltenheit
untersucht, einen poetischen Kollegen. Gern wollte er das Projekt mit einigen
Versen unterstützen. Sie blieben bis 5.00 Uhr früh in der Halle. Wenn das Poetische
ein Einsammelvorgang ist wie die Beeren- und
Kräutersuche, dann zeigt sich die Qualität des Poetischen
in der Zähigkeit, Vollständigkeit, Hartnäckigkeit und Leidenschaft der Suche.
Es geht um ein Sich-selbst-zwar-volIständig-oder-fast-vollständig-Einsamrneln.
- (klu)