tadt, keusche  In Cloe, einer großen Stadt, kennen die Menschen, die auf den Straßen gehen, einander nicht. Wenn sie sich sehen, stellen sie sich, der eine vom andern, tausend Dinge vor, Begegnungen, die es zwischen ihnen geben könnte, Unterhaltungen, Überraschungen, Liebkosungen, Bisse. Doch niemand grüßt jemanden, die Blicke kreuzen sich eine Sekunde lang und fliehen sich dann, suchen andere Blicke, verweilen nicht.

Ein Mädchen kommt vorbei und läßt den an die Schulter gelegten Sonnenschirm kreisen und ebenso ein wenig das Rund ihrer Hüften. Eine schwarzgekleidete Frau kommt vorbei, die alle ihre Jahre zeigt, mit unruhigen Augen unter dem Schleier und bebenden Lippen. Ein tätowierter Riese kommt vorbei; ein junger Mann mit weißem Haar; eine Zwergin; zwei Zwillingsmädchen, korallenfarben gekleidet. Irgend etwas läuft zwischen ihnen hin und her, ein Wechsel von Blicken, wie Linien, die eine Gestalt mit der anderen verbinden und Pfeile, Sterne, Dreiecke zeichnen, bis alle Kombinationen auf einen Schlag erschöpft sind, und andere Personen erscheinen auf der Szene: ein Blinder mit einem Geparden an der Kette, eine Kurtisane mit dem Fächer aus Straußenfedern, ein Ephebe, eine Frau mit üppigen Ausmaßen. So begeben sich zwischen denen, die einander zufällig in einem Laubengang treffen, um sich vorm Regen zu schützen, oder die sich unterm Sonnendach eines Basars drängen oder die stehenbleiben, um dem Platzkonzert zuzuhören, Begegnungen, Verführungen, Liebesumarmungen, Orgien, ohne daß man ein Wort miteinander wechselt, ohne daß man sich mit einem Finger berührt, fast ohne einen Augenaufschlag.

Ein   wollüstiges Beben durchläuft fortwährend Cloe,  keuscheste der Städte.   - Italo Calvino, Die unsichtbaren Städte. München 1977 (zuerst 1972)

 

Stadt Keuschheit

 

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