tadt, fremde  »Ich verlasse dich jetzt. Du mußt alleine weitergehen. Du sollst diese Stadt, die du nicht kennst, erforschen.« Matthieu, der den Kopf gesenkt gehalten hatte, blickte auf. Er erkannte dies: daß es Nacht war - ein schwarzer Himmel ohne Sterne -; daß es Häuser gab, gepflasterte Straßen -; daß er an einer Ecke stand, wo die Fliesen unter seinen Füßen aus zwei Richtungen zusammentrafen -; daß ein gelbes grelles Licht, ausgestrahlt von hochhängenden Lampen, das Bild erhellte, dies neue Bild, diese Straßenecke und einen breiten Boulevard, den er nach zwei Seiten hinabschauen konnte. Glitzernde Straßenbahnschienen lagen eingebettet im Pflaster, kamen von fern her, verloren sich im Fernen, schnurgerade, wie ihm schien, unablässig das nicht ermüdende gelbe Licht über sich, das unzählbare aufgehängte Lampen gaben. Während sein Geist sich anschickte, sich zu verwundern, spürte er, daß er unbekleidet und in diesem Zustand ein ungehöriger Fleck auf der Straße war. Doch nur ein paar Sekunden lang empfand er diese Nacktheit. Er bewegte die Arme, weitete die Brust. Er lehnte sich rückwärts gegen die Luft, die ihn umgab, und nahm wahr, daß sie ihn stützte. Er erkannte die Gestalt der Stimme, den Körper, der sich noch nicht von ihm verabschiedet hatte. Er fühlte die gütige Wärme jenes anderen, ertastete mit der Haut die andere Form, die sich ihm anschmiegte, begriff - mit aufdringlicher Schärfe -, daß das Wesen, männlich, ihn mit voller Gestalt hielt.

Aber dann war es fort - weggewischt wie die Stimme. Matthieu taumelte. Er blickte zurück. Er war verlassen. Er stand in seinen Kleidern da, gewöhnlich, ein unschlüssiger Mensch.

»Ich habe die Wahl, nach rechts oder nach links zu gehen. Wohin werde ich mich also wenden, da ich hier fremd bin, kein Zuhause habe und niemanden kenne, der mir raten könnte?«

Er tat ein paar Schritte vorwärts, um die Länge des Boulevards gewisser abschätzen zu können, womöglich ein Ende oder eine Krümmung zu entdecken. Aber es gab für sein Auge keine Begrenzung der blinkenden Schienen und kein Ende in der Zahl der Lampen. Es war wie der Raum zweier riesenhafter einander gegenübergestellter Spiegel - eine Unendlichkeit, die man sich errechnet, aber nicht glaubt. Und er sah keinen Menschen, so sehr er sich auch mühte, seinesgleichen zu entdecken. Die Häuserfronten waren angestrahlt, erschienen in der gleichmäßigen Farbe des Lichts, nur von Schatten übergossen oder durch Schmutz getrübt. In der Höhe verloren sich die Gebäude im Schwarz des Himmels, unbegrenzt. Und alle Türen und Fenster waren schwarz. - Hans Henny Jahnn, Die Nacht aus Blei. Frankfurt am Main 1982 (BS 682, zuerst 1956)

Stadt, fremde (2)  Dies ist eine fremde Stadt, ihr alleinstehenden Herren, ihr Herren, die ihr Arm in Arm geübt euch grüßt, ihr Herren in Damenbegleitung, meine Damen, dies ist eine befremdliche Stadt. Für jene in den freundlosen Häusern in den Straßen der Groschen und Freuden drehten sich Millionen Damen und Herren im Bett, die Zeit bewegte sich in jener Nacht mit dem erfahrenen Mond über Millionen Dächer, und grimmige Polizisten standen an jeder Ecke im schwarzen Wind. O Herr Einsam, sagten die alleinstehenden Damen, nackt wie neugeborene Mäuse werden wir sein und lang dich lieben in den kurzen Funken der Nacht. Wir sind nicht die Damen mit Federn zwischen den Brüsten, die Eier auf die Flik-kendecke legen. Als ich durch das wolkenkratzende Zentrum wanderte, wo die Lampen wie Menschen unter Spannung oder die Bäume einer neuen Schrift neben mir gingen, rempelte ich den Teufel an meiner Seite, aber die Lust in den Schatten seiner Stadt verfolgte mich unter den Torbögen und schwarze blinde Straßen hinab. Einmal in Form eines kahlen lächelnden Mädchens, als eine heulende Schlampe mit Handschellen als Ohrringe, oder als magere Mädchen, die vom Aufgeklaubten lebten; einmal in Gestalt einer zerlumpten Frau mit einem Abfallbesen, die mitten im Schleim ihren Knicks machte, da flüsterte mir der Versucher der Engel über die Schulter: Nackt werden wir sein bis auf das Strumpfband und die schwarzen Strümpfe, und lang werden wir dich lieben auf einem Bett aus Erdbeeren und Sahne, und das Band, das die Brustwarzen deckt, wird um so nackter uns machen. Wir sind nicht die Damen, die sich hinter dem Ohr ins Gehirn fressen oder vom Fett des Herzens leben. Ich erinnerte mich an die geschlechtslosen glänzenden Frauen in den ersten Stunden der Welt, die mich gebar, und an die goldenen geschlechtslosen Männer, die Gepriesen in die Klänge der Gestalt riefen. Indem ich Kraft aus einem plötzlichen Glanz gewann, rief ich laut aus: Ich habe den Leibhaftigen beim Bart. Aber die huschenden Gestalten folgten noch immer, und ein Ratgeber, der ungeheiligte Nacktheit empfahl, zeterte auf meinen Hacken. Nein, nicht umsonst traten mir die vollgepackten Durchgangsstraßen an jeder Kreuzung und jeder Windung des Pflasters mit diesen Klanggestalten entgegen, den von Lampen kreidigen Silhouetten und den wandernden Umrissen von Träumen, die aus einer dunkleren Allegorie kamen, als irdische Fiktionen sie im Zeitraum von zwölf Sonnen umrunden konnten. Es war mehr als menschliche Bedeutung in den menschenschädligen Schreckgestalten, die in ihren Nasenskeletten bohrten, in den markerschütterten Hanswursten, die im Tavernenlicht ihre Achselhöhlen kratzten. Es war mehr an dem toten Mann, der durch seine Verbände lächelte, seine Hand auf meinen Ärmel legte und in keines Menschen Stimme sagte: Es ist mehr als menschliche Bedeutung, wenn ein ausgestopfter Mann spricht, der vom Nabel bis zum Arschloch gespalten ist, und mehr an den gehörnten Damen auf deinen Hacken als eine Prise teufelsfüßiger Freuden und ein Schwefelhauch. Himmel und Hölle bewegen sich in der Stadt auf und ab. Mir ist der Gott Israel im Bilde eines geschminkten Jungen eigen, und Luzifer pißt im Hemde einer Frau aus einem Fenster in der Transvestitengasse.    - (echo)
 
 

Stadt Fremdheit

 

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