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leiris2
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Fleck
(2)
- Manfred
Schmidt
, Nick Knatterton
Gedenkausgabe, Oldenburg u. Hamburg 1971 (Stalling, zuerst 195*)
Fleck
(3) Einmal kam
die Günderode mir freudig entgegen und sagte: »Gestern hab' ich einen Chirurg
gesprochen, der hat mir gesagt, daß es sehr leicht ist, sich umzubringen,« sie
öffnete hastig ihr Kleid und zeigte mir unter der schönen Brust den Fleck; ihre
Augen funkelten freudig; ich starrte sie an, es ward mir zum erstenmal unheimlich,
ich fragte: »Nun! – Und was soll ich denn tun, wenn Du tot bist? –« »O«, sagte
sie, »dann ist Dir nichts mehr an mir gelegen, bis dahin sind wir nicht mehr
so eng verbunden, ich werd' mich erst mit Dir entzweien.« - Bettine von Arnim an Frau Rat Goethe
Fleck
(4) Botticelli
hatte eine Abneigung gegen die Landschaftsmalerei. Er hielt sie für eine Sache,
zu der es »nur kurzen und einfachen Studiums« bedürfe, und meinte geringschätzig:
»Wenn man einen mit verschiedenen Farben gefüllten Schwamm an die Wand wirft,
wird man im Fleck, den er hinterläßt, auch eine schöne Landschaft erblicken
können.« Das trug ihm eine strenge Ermahnung seines Zunftgenossen Leonardo da
Vinci ein: »Er (Botticelli) hat recht: Man kann in solche Sudeleien die seltsamsten
Dinge hineinsehen. Ich will damit sagen, daß jemand,
der den Fleck gern aufmerksam betrachtet, darin wirklich menschliche Köpfe,
verschiedene Tiere, Schlachten, Klippen, Meere, Wolken, Wälder und mehr zu sehen
vermag. Es ist wie Glockenläuten, man kann alles heraushören, was man sich darin
vorstellt. So mag dir ein Fleck zwar zu Einfällen verhelfen - wie man ein Stück
vollendet, lehrt er dich nicht. Der genannte Maler (Botticelli) macht sehr schlechte
Landschaften.
Um vielseitig zu sein und die verschiedenen Geschmäcker zufriedenzustellen,
müssen in einer Komposition dunkle und dann wieder in zartem Halbschatten gehaltene
Partien vorkommen. Es ist nach meiner Meinung nicht unnütz, wenn du zur Vergegenwärtigung
von Bildformen innehältst und die Flecken an der Mauer, in der Herdasche, in
den Wolken oder im Rinnstein ansiehst: Bei aufmerksamer Betrachtung wirst du
ganz wunderbare Erfindungen darin entdecken, aus denen der Geist des Malers
Nutzen zieht für die Komposition von Menschen- und Tierschlachten, Landschaften,
Monstren, Teufeln und anderen phantastischen Sachen, mit denen du zu Ehren kommen
wirst. Diese wirren Dinge wecken den Geist zu neuen Erfindungen, doch muß man
alle Teile, nämlich die Gliedmaßen der Tiere und die Formen der Landschaft,
ihre Pflanzen und Steine, gut zu machen gelernt haben.«
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Leonardo da Vinci, Traktat über die Malerei. Nach Max Ernst, nach: Als die Surrealisten noch recht hatten. Texte
und Dokumente, Hg. Günter Metken. Stuttgart 1976
Fleck
(5) Es waren dunkle
Flecken, die sich hervorhoben, unregelmäßig verteilt und meistens klein, kleine,
flache Schatten, Schattenstücke, die sich beim Näherkommen zusammenzogen, schrumpften
oder auseinanderfielen m einzelne schwarze Splitter, die in dem mattgrauen Licht
dann verschwanden, das sich über dem Pflaster ausgebreitet hatte. Dazwischen
tauchten manchmal auch größere Flächen auf, handflächengroße, schwarze Stellen,
an den Rändern ausgebuchtet oder eckig, scharf gezackt, Senken und Löcher, die
unter dem Blick wegtauchten und denen wieder neue, andersartig geformte Flecken
folgten. Weiter voraus gingen sie ineinander über. Sie verschwammen zu einer
einzigen stumpfschwarzen, schattigen Fläche, die einer großen dunklen Scholle
ähnelte, die zurückzuweichen schien, je näher man darauf zukam. Von ihr bröckelten
diese kleineren Splitter ab, lösten sich aus dem Rand und kamen heran, stetig
und langsam wie treibende, nach oben fließende Lachen, Öllachen, Placken, schwarze
Placken, die erstarrt waren. Sie schwammen dann unter den Schritten weg, eingegrenzt
zu beiden Seiten vom Bordstein der Bürgersteige, die Bürgersteige waren schmal.
Als schmale, ein wenig erhöhte Streifen liefen sie vor den Häusern entlang,
nicht breit, gerade so breit, daß nur eine Person dort gehen konnte. Kam man
ihr entgegen oder wollte sie überholen, mußte man sie entweder auf die Fahrbahn
drängen oder selber nach dorthin ausweichen, so daß nicht ganz verständlich
war, warum überhaupt noch diese Gehsteige von der Straße abgesetzt waren. Die
Straße war mit grobgehauenen Basaltsteinen gepflastert. Sie war eng und ein
Schacht, der nach unten leicht abfiel. - Rolf Dieter Brinkmann, Ein
Vorfall. In:
R. D. B., Erzählungen. Reinbek bei Hamburg 1985
Fleck
(6)
Nahe beim Lampenschirm lag ein geschliffener Briefbeschwerer auf den
Papieren. Ein feiner Lichtstrahl brach sich in der Tiefe des Kristalls,
lief in das Dunkel des Zimmers und fiel auf die Wand.
- Was sehen Sie hier? - fragte Sheppard und zog sich in den Schatten zurück.
Gregory beugte sich zur Seite, um der Blendwirkung der Schreibtischlampe zu entgehen. An der Wand hing ein Bild, ganz in Dunkel gehüllt. Nur ein winziger Teil von ihm wurde durch den einsamen Lichtstrahl erleuchtet. Auf dieser Fläche, nicht größer als zwei Geldstücke, war ein dunkler Fleck zu sehen, der von einem blassen, aschfarbenen, leicht gekrümmten Rand eingefaßt wurde.
- Dieser Fleck da? - sagte er. - Irgendein Querschnitt? Nein, ich kann mich darin nicht zurechtfinden, Moment...
Dieses Etwas hatte seine Neugierde geweckt. Je länger er es beobachtete, um so stärker wurde in ihm ein Gefühl der Unruhe. Er wußte immer noch nicht, was er da sah, aber seine Unruhe wuchs.
- Als ob es lebendig wäre... - sagte er und senkte unwillkürlich die Stimme. - Obwohl nein ... ein ausgebranntes Fenster in einer Ruine?
Sheppard trat näher und verdeckte die Stelle mit seinem Körper. Der unregelmäßige Lichtfleck lag jetzt auf seiner Brust.
- Sie können sich darin nicht zurechtfinden, denn Sie sehen nur einen Teil - sagte er. - Nicht wahr?
- Ah! Sie glauben, daß die Serie der verschwindenden Leichen nur einen Teil ausmacht, nur ein Fragment, sagen wir mal, den Beginn irgendeines größeren Ganzen?
- Genau das denke ich.
Sheppard ging erneut auf und ab. Gregory richtete seinen Blick wieder auf die Stelle an der Wand.
- Es könnte sich um den Beginn einer Affäre von
größerer Tragweite handeln, einer kriminellen, aber auch einer
politischen, die mit der Zeit die Grenzen unseres Landes überschreiten
dürfte. Das, was noch kommen wird, müßte dann aus dem hervorgehen, was
bereits gewesen ist. Es kann auch alles ganz anders sein, vielleicht
haben wir nur ein Ablenkungsmanöver beobachtet oder eine taktische
Scheinoperation ...
Gregory hörte kaum zu, so sehr nahm dieser Fleck, der ihn beunruhigte, seine Aufmerksamkeit in Anspruch.
- Verzeihung - sagte er unerwartet für sich selbst -, was ist das dort, Herr Inspektor?
- Wo? Ach, das!
Sheppard drehte an einem Schalter. Licht überflutete den
Raum; das dauerte vielleicht zwei oder drei Sekunden. Danach schaltete
der Inspektor die Deckenlampe aus, und es herrschte erneut Dunkelheit.
Im Moment der Helligkeit hatte Gregory das erblickt, was bis dahin
unsichtbar war -das Gesicht einer Frau, schräg nach hinten geworfen, das
Weiß der Augäpfel beherrschte ihren Blick, ihr Hals trug das tiefe,
blutunterlaufene Mal einer Gehenkten. Er hatte keinerlei Einzelheiten
der Photographie erkennen können, dennoch drang mit seltsamer
Verzögerung das Entsetzen auf ihn ein, das in diesem toten Antlitz
geronnen war. - Stanislaw Lem, Die Untersuchung. Frankfurt am Main 1978
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