leck   In dem ärmlichen Hotelzimmer, in dem die leere Flasche auf den Fußboden gerollt war und das größte Durcheinander herrschte (der Tisch war umgestoßen, die Wäsche verstreut und das Geschirr in Scherben), saß auf einem Stuhl der Mann in seinen groben, wahrscheinlich genagelten Schuhen, dessen nicht zugeknöpftes Hemd die behaarte Brust zum Vorschein kommen ließ. Sein abgestumpfter Blick fiel weder auf die umgestoßene Wiege noch auf das Bündel (man hätte meinen können von schmutzigen Lumpen), nach dem jetzt das Baby aussah, dem er den Kopf an der Wand zerschmettert hatte. Die Frau war nicht da, entweder weil der Rasende sie mit Schlägen und Fußtritten vor oder nach der Tragödie hinausgeworfen hatte, oder weil sie - freilich zu spät - die Gäste holen wollte oder (weil diese nicht erreichbar waren, da sie im nächstgelegenen Ausschank Karten klopften) die Polizei, um ihren Gefährten zu bändigen, der diesmal zu weit ging. Trotz der einsetzenden Dämmerung deutlich sichtbar klebte ein sternförmiger Fleck, der nicht von Erbrochenem herrührte, an der Tapete, deren Blumenmuster mit der Zeit verblichen oder in der wachsenden Dunkelheit nicht mehr erkennbar war. Welches war das Motiv des Zanks gewesen: von ihm aus (der sehr schnell rot gesehen hatte), daß die Suppe nicht heiß genug war, oder von ihr aus (weinerlich wie immer), daß er wankend nach Hause kam? - (leiris2)

Fleck (2)

Nick Knatterton beim Denken

-  Manfred Schmidt,  Nick Knatterton Gedenkausgabe, Oldenburg u. Hamburg 1971 (Stalling, zuerst 195*)

Fleck (3)  Einmal kam die Günderode mir freudig entgegen und sagte: »Gestern hab' ich einen Chirurg gesprochen, der hat mir gesagt, daß es sehr leicht ist, sich umzubringen,« sie öffnete hastig ihr Kleid und zeigte mir unter der schönen Brust den Fleck; ihre Augen funkelten freudig; ich starrte sie an, es ward mir zum erstenmal unheimlich, ich fragte: »Nun! – Und was soll ich denn tun, wenn Du tot bist? –« »O«, sagte sie, »dann ist Dir nichts mehr an mir gelegen, bis dahin sind wir nicht mehr so eng verbunden, ich werd' mich erst mit Dir entzweien.«  - Bettine von Arnim an Frau Rat Goethe

Fleck (4) Botticelli hatte eine Abneigung gegen die Landschaftsmalerei. Er hielt sie für eine Sache, zu der es »nur kurzen und einfachen Studiums« bedürfe, und meinte geringschätzig: »Wenn man einen mit verschiedenen Farben gefüllten Schwamm an die Wand wirft, wird man im Fleck, den er hinterläßt, auch eine schöne Landschaft erblicken können.« Das trug ihm eine strenge Ermahnung seines Zunftgenossen Leonardo da Vinci ein: »Er (Botticelli) hat recht: Man kann in solche Sudeleien die seltsamsten Dinge hineinsehen. Ich will damit sagen, daß jemand, der den Fleck gern aufmerksam betrachtet, darin wirklich menschliche Köpfe, verschiedene Tiere, Schlachten, Klippen, Meere, Wolken, Wälder und mehr zu sehen vermag. Es ist wie Glockenläuten, man kann alles heraushören, was man sich darin vorstellt. So mag dir ein Fleck zwar zu Einfällen verhelfen - wie man ein Stück vollendet, lehrt er dich nicht. Der genannte Maler (Botticelli) macht sehr schlechte Landschaften.

Um vielseitig zu sein und die verschiedenen Geschmäcker zufriedenzustellen, müssen in einer Komposition dunkle und dann wieder in zartem Halbschatten gehaltene Partien vorkommen. Es ist nach meiner Meinung nicht unnütz, wenn du zur Vergegenwärtigung von Bildformen innehältst und die Flecken an der Mauer, in der Herdasche, in den Wolken oder im Rinnstein ansiehst: Bei aufmerksamer Betrachtung wirst du ganz wunderbare Erfindungen darin entdecken, aus denen der Geist des Malers Nutzen zieht für die Komposition von Menschen- und Tierschlachten, Landschaften, Monstren, Teufeln und anderen phantastischen Sachen, mit denen du zu Ehren kommen wirst. Diese wirren Dinge wecken den Geist zu neuen Erfindungen, doch muß man alle Teile, nämlich die Gliedmaßen der Tiere und die Formen der Landschaft, ihre Pflanzen und Steine, gut zu machen gelernt haben.«   - Leonardo da Vinci, Traktat über die Malerei. Nach Max Ernst, nach:  Als die Surrealisten noch recht hatten. Texte und Dokumente, Hg. Günter Metken. Stuttgart 1976

Fleck (5)  Es waren dunkle Flecken, die sich hervorhoben, unregelmäßig verteilt und meistens klein, kleine, flache Schatten, Schattenstücke, die sich beim Näherkommen zusammenzogen, schrumpften oder auseinanderfielen m einzelne schwarze Splitter, die in dem mattgrauen Licht dann verschwanden, das sich über dem Pflaster ausgebreitet hatte. Dazwischen tauchten manchmal auch größere Flächen auf, handflächengroße, schwarze Stellen, an den Rändern ausgebuchtet oder eckig, scharf gezackt, Senken und Löcher, die unter dem Blick wegtauchten und denen wieder neue, andersartig geformte Flecken folgten. Weiter voraus gingen sie ineinander über. Sie verschwammen zu einer einzigen stumpfschwarzen, schattigen Fläche, die einer großen dunklen Scholle ähnelte, die zurückzuweichen schien, je näher man darauf zukam. Von ihr bröckelten diese kleineren Splitter ab, lösten sich aus dem Rand und kamen heran, stetig und langsam wie treibende, nach oben fließende Lachen, Öllachen, Placken, schwarze Placken, die erstarrt waren. Sie schwammen dann unter den Schritten weg, eingegrenzt zu beiden Seiten vom Bordstein der Bürgersteige, die Bürgersteige waren schmal. Als schmale, ein wenig erhöhte Streifen liefen sie vor den Häusern entlang, nicht breit, gerade so breit, daß nur eine Person dort gehen konnte. Kam man ihr entgegen oder wollte sie überholen, mußte man sie entweder auf die Fahrbahn drängen oder selber nach dorthin ausweichen, so daß nicht ganz verständlich war, warum überhaupt noch diese Gehsteige von der Straße abgesetzt waren. Die Straße war mit grobgehauenen Basaltsteinen gepflastert. Sie war eng und ein Schacht, der nach unten leicht abfiel.  - Rolf Dieter Brinkmann, Ein Vorfall. In: R. D. B., Erzählungen. Reinbek bei Hamburg 1985

Fleck (6)   Nahe beim Lampenschirm lag ein geschliffener Briefbeschwerer auf den Papieren. Ein feiner Lichtstrahl brach sich in der Tiefe des Kristalls, lief in das Dunkel des Zimmers und fiel auf die Wand.

-  Was sehen Sie hier? - fragte Sheppard und zog sich in den Schatten zurück.

Gregory beugte sich zur Seite, um der Blendwirkung der Schreibtischlampe zu entgehen. An der Wand hing ein Bild, ganz in Dunkel gehüllt. Nur ein winziger Teil von ihm wurde durch den einsamen Lichtstrahl erleuchtet. Auf dieser Fläche, nicht größer als zwei Geldstücke, war ein dunkler Fleck zu sehen, der von einem blassen, aschfarbenen, leicht gekrümmten Rand eingefaßt wurde.

-  Dieser Fleck da? - sagte er. - Irgendein Querschnitt? Nein, ich kann mich darin nicht zurechtfinden, Moment...

Dieses Etwas hatte seine Neugierde geweckt. Je länger er es beobachtete, um so stärker wurde in ihm ein Gefühl der Unruhe. Er wußte immer noch nicht, was er da sah, aber seine Unruhe wuchs.

-  Als ob es lebendig wäre... - sagte er und senkte unwillkürlich die Stimme. - Obwohl nein ... ein ausgebranntes Fenster in einer Ruine?

Sheppard trat näher und verdeckte die Stelle mit seinem Körper. Der unregelmäßige Lichtfleck lag jetzt auf seiner Brust.

-  Sie können sich darin nicht zurechtfinden, denn Sie sehen nur einen Teil - sagte er. - Nicht wahr?

-  Ah! Sie glauben, daß die Serie der verschwindenden Leichen nur einen Teil ausmacht, nur ein Fragment, sagen wir mal, den Beginn irgendeines größeren Ganzen?

- Genau das denke ich.

Sheppard ging erneut auf und ab. Gregory richtete seinen Blick wieder auf die Stelle an der Wand.

-  Es könnte sich um den Beginn einer Affäre von größerer Tragweite handeln, einer kriminellen, aber auch einer politischen, die mit der Zeit die Grenzen unseres Landes überschreiten dürfte. Das, was noch kommen wird, müßte dann aus dem hervorgehen, was bereits gewesen ist. Es kann auch alles ganz anders sein, vielleicht haben wir nur ein Ablenkungsmanöver beobachtet oder eine taktische Scheinoperation ...
Gregory hörte kaum zu, so sehr nahm dieser Fleck, der ihn beunruhigte, seine Aufmerksamkeit in Anspruch.

- Verzeihung - sagte er unerwartet für sich selbst -, was ist das dort, Herr Inspektor?

- Wo? Ach, das!

Sheppard drehte an einem Schalter. Licht überflutete den Raum; das dauerte vielleicht zwei oder drei Sekunden. Danach schaltete der Inspektor die Deckenlampe aus, und es herrschte erneut Dunkelheit. Im Moment der Helligkeit hatte Gregory das erblickt, was bis dahin unsichtbar war -das Gesicht einer Frau, schräg nach hinten geworfen, das Weiß der Augäpfel beherrschte ihren Blick, ihr Hals trug das tiefe, blutunterlaufene Mal einer Gehenkten. Er hatte keinerlei Einzelheiten der Photographie erkennen können, dennoch drang mit seltsamer Verzögerung das Entsetzen auf ihn ein, das in diesem toten Antlitz geronnen war.  - Stanislaw Lem, Die Untersuchung. Frankfurt am Main 1978  

 

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