onnenanbeter
Der Mann, der sich selbst Kalon nannte, war ein herrliches Geschöpf,
in physischem Sinne wahrhaft würdig, der Oberpriester Apolls zu sein. Er war
fast so groß wie Flambeau und sah sehr viel besser aus, mit goldenem Bart, leuchtend
blauen Augen, einer wehenden Löwenmähne. Seinem Bau nach war er die blonde Bestie
Nietzsches, aber diese animalische Schönheit wurde erhöht, aufgehellt und gesänftet
durch echten Verstand und wahre Geistigkeit. Wenn er schon einem der großen
Sachsenkönige glich, dann einem jener Könige, die auch Heilige waren. Und das
trotz all der Ungereimtheiten seiner alltäglichen Umgebung; trotz der Tatsache,
daß er ein Büro auf halber Höhe eines Gebäudes in der Victoria Street hatte;
daß sein Sekretär (ein gewöhnlicher Jüngling mit Manschetten und Kragen) im
Vorzimmer zwischen ihm und dem Korridor saß; daß sich sein Name auf einem Messingschild
befand und das vergoldete Emblem seines Glaubens über der Straße hing wie das
Firmenschild eines Augenarztes. All diese Gewöhnlichkeiten
konnten dem Mann namens Kalon die Lebendigkeit des Eindrucks und des Einflusses
nicht nehmen, die ihm aus Seele und Körper kamen. In der Gegenwart dieses Marktschreiers
fühlte man sich trotz allem in der Gegenwart eines großen Mannes. Selbst in
seinem losen leinenen Anzug, den er als Arbeitsanzug in seinem Büro trug, war
er eine faszinierende und beeindruckende Erscheinung; und wenn er in die weißen
Gewänder gekleidet und mit dem goldenen Reifen gekrönt war, in denen er täglich
die Sonne grüßte, dann sah er wirklich so herrlich aus, daß dem Straßenvolk
das Gelächter manchmal auf den Lippen erstarb. Denn
dreimal am Tage trat der neue Anbeter der Sonne hinaus auf seinen kleinen Balkon,
um vor ganz Westminster seinem strahlenden Herrn eine Litanei aufzusagen: einmal
zum Tagesanbruch, einmal bei Sonnenuntergang, und einmal Punkt zwölf Uhr mittags.
- G.K. Chesterton, Das Auge Apollos. In: Ders., Father Browns Einfalt. Zürich 1991 (zuerst 1911)