Aber dieser aseptische Geschmack nach Vollkommenheit, das breite wohlwollende
und verzeihende Lächeln, mit dem ich empfangen, und schließlich der ausgestorbene
Tempel, in dem ich untergebracht werde, das jagt mir alles Schrecken ein. »Ausgestorbener
Tempel« habe ich gesagt: Ich werde doch nicht in eine Verschwörung geraten sein,
wo jeder Verschwörer in einen Gott verwandelt werden soll ? Wie weit bin ich
dann noch entfernt von der Levitation, von der Erleuchtung, vom Wohlwollen,
von der dulcedo? Meine atavische Vorliebe für die Nacht, die abendländische,
lahme, aber unabdingbare Flucht durch die Finsternis, in die Finsternis, das
alles erscheint mir aufs neue hinreißend. Ich bitte, mein Körper bittet um ein
Mißverständnis, einen Schrecken, einen Fehler, Hände weg von meiner Seele, ihr
rettenden Seelen! Ich kenne dein Glück, deine Süße: unsere Begegnung ist ein
Zusammentreffen von Fälschern, aber es ist der Fall, daß wir uns von Grund auf
kennen. Du, lasterhafter und heiliger Alter, hältst mir eine offizielle Wegkarte
hin, um aus dem Kerker hinauszukommen: beinahe als würdest du das Gerassel der
Ketten und das Knarren der Galgen nicht hören. Vade retro, anima! Ich fliehe
nicht, ich breche aus. Und schon stürze ich Hals über Kopf wieder durch die
engen Gassen einer pseudo-französischen Stadt zu einem Omnibus, der von Bettlern
belagert wird. Mit der Zärtlichkeit eines Komplizen schaue ich sie alle an,
die Menschen mit den tiefen Wunden - die Kranken, die Listigen, die Verlassenen,
die Schlauen. Wir werden doch niemals vollkommen werden, oder? Wir werden niemanden
erleuchten. Uns zu retten, wird nicht gestattet sein. - Giorgio Manganelli,
Das indische Experiment. Berlin 2004 (zuerst 1992)
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Rolf Dieter Brinkmann, Erkundungen
für die Präzisierung des Gefühls für einen Aufstand: Reise Zeit Magazin
(Tagebuch). Reinbek bei Hamburg 1987
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