Wir warten eine gute halbe Stunde lang auf den Sonnenaufgang.
Vor mir ging die Sonne auf; das ganze in Nebel gehüllte Niltal glich einem weißen unbeweglichen Meer, und die Wüste dahinter mit ihren Sandhügeln einem weiteren, dunkel violetten Ozean mit lauter versteinerten Wellen. Indessen tauchte die Sonne hinter der arabischen Bergkette auf, der Nebel zerriß zu großen, hauchdünnen Schleiern, und die von Kanälen durchschnittenen Wiesen waren wie grüne Teppiche mit arabesken Randverzierungen. Alles in allem drei Farben: zu meinen Füßen im Vordergrund ein unermeßliches Grün; der Himmel von einem gelben, abgenutzt wirkenden Karminrot; im Hintergrund und zur Rechten eine weite, hügelige Ebene in einem schillernden, braunroten Ton, Minarette von Kairo, Canjas, die in der Ferne vorbeiziehen, Büschel von Palmbäumen.
Schließlich hat der Himmel da, wo die Sonne aufgehen wird,
einen orangefarbenen Streifen. Alles, was sich zwisehen dem Horizont
und uns befindet, ist ganz weiß und ähnelt einem Ozean; das zieht
sich zurück und steigt an. Es scheint, als höbe sich die Sonne
ganz rasch über die länglichen Wolken empor, die wie Flaum von
unaussprechlicher Zartheit sind; man könnte meinen, die Bäume
in den Büscheln von Dörfern (Gizeh, Matârîje, Bedrachein usw.)
stünden oben am Himmel, da die ganze Fernsicht lotrecht ausgerichtet
ist; ich hatte so eine Sicht schon einmal vom Paß der Picade
in den Pyrenäen; hinter uns, wenn wir uns umdrehen, liegt die
Wüste, violette Sandwogen: ein violetter
Ozean. - (
orient
)
Sonnenaufgang (2) Es ist viel über
den Sonnenaufgang auf See gesagt worden. Er hält aber keinen
Vergleich aus mit dem an Land. Ich vermißte den Gesang der Vögel,
das langsame Erwachen des menschlichen Getriebes, den Schein
der ersten Sonnenstrahlen auf Berge, Bäume, Türme und Dächer;
es fehlte die belebte Landschaft. Bei der unendlichen Weite und
Leere des Ozeans läßt sich ein Gefühl der Schwermut nicht unterdrücken.
- (dana)
Sonnenaufgang (3) Nirgends ein Laut - alles
totenstill - gerade, als ob die ganze Welt im Schlaf läge, nur manchmal das
Gequake eines Ochsenfrosches. Als erstes, wenn man übers Wasser guckte, kam
ein schwacher Streif zum Vorschein - das waren die Wälder am andern Ufer
- weiter war nichts zu erkennen; dann eine blasse Stelle am Himmel; dann immer
mehr fahle Helle, die sich ausbreitete; dann lichtete sich in der Feme der Fluß
auf und war nicht mehr schwarz, sondern grau; man konnte kleine dunkle Flecke
treiben sehen, so weit weg - Marktboote und dergleichen; und lange schwarze
Streifen - Flöße; manchmal konnte man ein Ruder kreischen hören oder verworrene
Stimmen - es war so still, und die Laute kamen aus so weiter Feme; und nach
einer Weile konnte man einen Streifen auf dem Wasser sehen und wußte vom Ansehn,
daß da ein Baumstamm in der schnellen Strömung war, wo sich das Wasser brach
und diesen Streifen hervorbrachte; und man sah, wie sich der Nebel vom Wasser
emporkräuselte und wie der östliche Himmel sich rötete, und der Fluß auch, und
am Rand der Wälder, drüben am andern Ufer des Flusses, erkannte man eine Blockhütte,
ein Holzhof vermutlich; dann kam eine leichte Brise von dort drüben und fächelte
einen, ganz kühl und frisch und süß duftend nach Wäldern und Blumen; aber manchmal
auch anders, wenn nämlich tote Fische, Hornhechte und dergleichen, am Ufer liegengeblieben
waren, und die stinken nicht schlecht; und dann war's heller Tag, und alles
lächelte in der Sonne, und die Singvögel legten los! - Mark Twain, Huckleberry
Finn. Frankfurt am Main 1975 (zuerst 1884)
Sonnenaufgang (4) Das sexkranke Kreischen
der städtischen Leichenwagen sodomisierte den neugeborenen Tag. Chicago, die
aufgeputzte Schlampe, hatte wieder eine Nacht der Fleischeslust zerfickt. Jetzt
lag die falsche Große Dame in ihrem neonbleichen Ballkleid, schäbig im gnadenlosen
Licht. In ihren fahlen Schlüpfern hing der Pestgestank von jungem und uraltem
Tod. - Iceberg Slim, Todesfluch. Reinbek bei Hamburg 1997 (zuerst 1977)
Sonnenaufgang (5)
Sonnenaufgang mit Meeresungeheuer
- William Turner
Sonnenaufgang (6)
Unter uns glitt Japan dahin, und die Lichtflecke seiner Städte waren deutlich
zu sehen. Nachdem wir Japan passiert hatten, gelangten wir in die dunkle Leere
des Stillen Ozeans. Der Mond war nicht zu sehen. Die Sterne waren hell und fern.
Ich hing weiter am Haltegriff wie auf der Plattform einer Straßenbahn... Ganz
langsam, unerträglich langsam dehnte sich die halbe Stunde, bis auf der Erde
die Frühdämmerung zu erscheinen begann. Zunächst zeigte sich am Horizont ein
feiner grünlich-blauer Streifen; dann verwandelte er sich binnen einiger Minuten
in eine in allen Regenbogenfarben schimmernde Aureole; und schließlich brach
die goldene Sonnenscheibe daraus hervor. - Walerij Rjumin, nach Der Heimatplanet, ed. Kevin W. Kelley, Frankfurt am Main
1989, zuerst 1988
Sonnenaufgang (7) »Mannomann, was 'ne Sonne!« sagte Lenzetta, nachdem der Alte hineingegangen war und sie allein in der Borgata standen: denn ein ganz sanft violett gefärbtes Licht war heruntergekommen und schwamm auf den Straßen, zwischen einem Wohnblock und dem nächsten, es strahlte aus der Ferne her, von da, wo der unsichtbare Flammenschein hinter den Hügeln stand, wahrend zwischen den Simsen zwei, drei Eulen rufend hin und her flogen.
Lenzetta, der ihnen besorgt lauschte, ganz in Gedanken an die Rolle der tüchtigen
Jungs, die sie gespielt hatten, an die Familie Bifoni und an den Tod, worauf
ihm die Knie schlotterten, einen Augenblick wie in tiefer Versenkung geistesabwesend
stehen, zog dann ein Knie an seinen Bauch und ließ einen Furz
raus. Aber der kam nur gequält und nicht von Herzen. - (
rag
)
Sonnenaufgang (8) Die Sonne hatte
sich die Stiefel angelegt, um zu den Antipoden zu kutschieren, die sie wie betäubte
Hühner schon erwarteten; und die Zikaden, durch ihr Scheiden verstummt, hatten
ihr Geschäft den Grillen überlassen; da glich der Tag einem ruinierten Kaufmann,
der nach einer Kirche ausschaut, um mit einem Satz hineinzuspringen. Und schon
ließen sich Kauz und Eule blicken, die Papageien der Nacht, und zeigten sich
ihr, die mit verbundenen Augen, wortlos, schwermütig, melancholisch und gedankenvoll
einherkam, angetan mit einem schwarzen Umhang, und mit dem Schritt einer Witwe,
die um den vor Monatsfrist verschiedenen Gatten seufzt. Und das Gestirn, das
die Astrologen zum Irrereden bringt, kam maskiert auf die Bühne mit einem Leintuch
um den Leib; und die Sterne, die bei Sinnen und von Sinnen sind, in böser und
in guter Gesellschaft, kamen feurig vergoldet aus der Hand des Goldschmiedmeisters
Apollo ans Fenster: zuerst einer, dann zu zweien, zu dreien, zu vieren, dann
fünfzig, hundert und tausend. .. - Aretino, nach: Giorgio
Manganelli,
Manganelli furioso. Handbuch für unnütze Leidenschaften. Berlin 1985
Sonnenaufgang (9)
Ähnlich streut zu gegebener Zeit durch des Äthers Gefilde |
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