Schock  Das Bedürfnis, sich Chockwirkungen auszusetzen, ist eine Anpassung der Menschen an die sie bedrohenden Gefahren.  - Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (1936)

   Schock (2)

Schock (3)

Schock (4)  Vincent V., bis zu seiner Verehelichung ein mustergültiger Verkäufer, heiratete neulich C. Er verläßt jeden Morgen um 7 Uhr 30 das Haus, um ins Geschäft zu gehen. Aber er verbringt den Vormittag bei jedem Wetter auf einer Bank in der Avenue du Maine. Er kommt zu spät zum Mittagessen und kehrt überstürzt zur selben Arbeit zurück. Am Monatsende hat er natürlich keinen Sou für C., die im Glauben lebt, er verkaufe den ganzen Tag über Tintenwischer. Das belustigt ihn ein wenig.   - (lib)

Schock (5)  Mechanisch — der Schock ist eine begrenzte Geschwindigkeitsveränderung in einer unendlich kurzen Zeit — mithin eine unendlich kleine Ortsveränderung. Die Kraft wird unbegrenzt — d.h. invers zur unendlich kleinen Zeit. Die anderen Kräfte neben den vom Schock hervorgebrachten können vernachlässigt werden.

Ich notiere nun Beobachtungen über den Nervenschock und den psychischen Schock:

Der plötzliche Schlag ist derjenige, welcher seine eigene Wahrnehmung als Wirkung oder Antwort hat — (nach einer spürbaren Zeit).

»Plötzlich« ist das Ereignis, dem keine Vorbereitung vorhergehen kann. Es ist ein Faktum, das einer anderen Kategorie angehören muß, aufgrund des nicht-seinetwegen, — meinetwegen.

Es verkörpert den Zufall, das reine Unwahrscheinliche, da das mir auferlegte Wahrscheinliche dasjenige ist, das mir gemäß ist.

Geht mein Handeln meiner Erkenntnis voraus, so nehme ich es als plötzliches Faktum wahr. Alle meine Reflexe überraschen mich, selbst wenn sie vorhergesehen werden.

Auf ein plötzliches Ereignis antwortet eine plötzliche innere Wirkung. Auf die Ungewißheit dessen, was war, eine Ungewißheit dessen, was ich war. Für einen gewissen Grad an Überraschung bin ich die Lösung; bei einem stärkeren Grad gibt es keine Lösung mehr für das Ganze. Das Schlagartige ist das, was ich durch eine innere Empfindung erfahre. Mein Herz bringt mir bei, daß ich gesundheitlich ruiniert bin. Ich habe es soeben gehört und kann darauf nicht zurückkommen, weil dieses Herz den Weg zur klaren Anschauung und sogar zur Entscheidung über die Umstände versperrt. Bisweilen scheint es geradezu, daß dieses Herz auf dem laufenden ist, daß es vor mir weiß. Wie kannst du es wissen, Organ der Angst?   - (pval2)

Schock (6)  Die »INNERE, SUBJEKTIVE LANDSCHAFT ODER EINRICHTUNG« (d.h. »Verfassung des inneren Gemeinwesens«) der Menschen, die heute auf dem Gelände des fruchtbaren Halbmonds, der ältesten geschlossenen Siedlungsfläche der agrarischen Revolution leben, beruht auf 7 Schocks und 21 Unterschocks, schreibt Erwin Schneppel, der Schüler Leszynskis; Schneppel war ehemaliger Archivrat an der Botschaft der DDR in Damaskus.

Der AUSSENKRIEG zwischen Nomadenkriegern und Städtern (wobei erst die Städte den Krieg als systematisches Verhältnis erfinden). Dessen BEFRIEDUNG MIT ANGESCHLOSSENEN MASSAKERN (1. Schock). Es folgen die sechs Schocks der Buchhaltung (Nr. 2), des Mords an den Müttern (Nr. 3), des Mords der Brüder am Vater (Nr. 4), der Schriftform und der Enteignung (Nr. 5) sowie der Götterdämmerung (Nr. 6); hinzu tritt der Mongolensturm (Nr. 7) mit anschließender türkischer Besetzung (Nr. 7a); die Usurpation durch die britische Kolonialmacht (Nr. 7b), das Königtum und dessen Sturz (Nr. 7c), der Putsch der Baath-Partei (Nr. 7d). Die Schocks, sagt Schneppel, werden oberflächlicher, so daß mit dem Schock des sog. Golfkriegs als weiterer Vertiefung gar nicht mehr zu rechnen ist. Als SCHOCK im Sinne der marxistischen Betrachtungsweise sind auch nur Vorgänge zu verstehen, die, über Perioden von mehr als 300 Jahren, fähig sind, Rache und Gegengewichte zu produzieren. Es geht um EINPRÄGUNG:

»>Man brennt etwas ein, damit es im Gedächtnis bleibt: Nur was nicht aufhört, weh zu tun, bleibt im Gedächtnis.<-Das ist ein Hauptsatz aus der alleräl-testen (leider auch allerlängsten) Psychologie auf Erden. Man möchte selbst sagen, daß überall, wo es jetzt noch auf Erden Feierlichkeit, Ernst, Geheimnis, düstere Farben im Leben von Mensch und Volk gibt, etwas von der Schrecklichkeit nachwirkt, mit der ehemals überall auf Erden versprochen, verpfändet, gelobt worden ist: die Vergangenheit... haucht uns an und quillt in uns herauf, wenn wir >ernst< werden. Es ging niemals ohne Blut, Martern, Opfer ab, wenn der Mensch es für nötig hielt, sich ein Gedächtnis zu machen;...!« >»Ah, die Vernunft, der Ernst, die Herrschaft über die Affekte, diese ganze düstere Sache, welche nachdenken heißt, alle diese Vorrechte und Prunkstücke des Menschen: wie teuer haben sie sich bezahlt gemacht! Wieviel Blut und Grausen ist auf dem Grund aller guten Dinge!<«58

Eine solche VERWANDLUNG, SUBJEKTIVE VERSTÄDTERUNG ODER INNERE LANDSCHAFT DES MENSCHEN, ein Geist-Gefäß, ist ein institutionelles Produkt, das wiederum Geister freisetzt, nämlich Rachegeister. Dies stellt, schreibt Schneppel, ein charakteristisches Beispiel dar für ein sog. MATERIELLES VERHÄLTNIS. In der akademistischen Tradition unseres Vaterlandes der Werktätigen hat man das dialektisch-materialistische Monster, DIE GESCHICHTE, mißverstanden, als bestehe es aus Materie, z.B. Beton, Stahlproduktion usf. Im Gegenteil: Es verhält sich spiritistisch; es produziert Geister. DAS IST GILGAMESCH. Die Erschaffung eines Helden mißlang. Schneppel führt dies aber nicht auf die Schocks eins bis sieben zurück, die nur bei WASSERBAUGESELLSCHAFTEN in voller Konsequenz existieren. Vielmehr gilt die DÜSTERE VORGESCHICHTE auch für die heimatliche Bevölkerung der DDR. Wie gesagt, gilt sie hier nicht RESTLOS; vielmehr finden sich in 12% der Lebensläufe URSPRÜNGLICHE LEIDENSCHAFT, die allerdings nicht dazu neigt, sich durch geschlechtliche Vereinigung zu äußern. Umgekehrt zeigt sich die andere Eigenschaft der Liebe, nämlich der grundlegende UNGEHORSAM GEGEN DAS GESETZ, oft verdeckt durch Fesseln der Vernunft (krank machend) oder durch Verrücktheit.

58 Nietzsche, Zur Genealogie der Moral

  - (klu)
 

Plötzlichkeit Erschrecken

 

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