chein
Recht betrachtet, haben wir Menschenkinder an dem Sein
keinen Teil. Jede menschliche Natur steht ja immer zwischen Werden und Vergehen,
sie zeigt sich nur als ein Bild, als eine schattenhafte,
undeutliche Erscheinung ihrer selbst. Richtest du aber dein ganzes Denken darauf,
diese menschliche Natur zu erfassen, so wird es dir ebenso ergehen, als wenn
du versuchen wolltest, Wasser zusammenzupressen: nimmst du es in beide Hände,
um es auf diese Weise zusammenzudrücken, so rinnt es dir aus den Händen. So
geht auch der Verstand fehl, wenn er einer Vorstellung von Wesen, die dem Leiden
und der Veränderung unterworfen sind, nachjagen will, bald um ihren Ursprung,
bald um ihren Untergang aufzuspüren. Aber niemals ist es ihm vergönnt, ein Bleibendes
oder ein wirklich Seiendes zu erhaschen. ,Man kann nicht zweimal in denselben
Fluß hineinsteigen', sagt Heraklit, man kann aber ebensowenig ein sterbliches
Wesen zweimal in demselben Zustand antreffen, sondern infolge der Heftigkeit
und Schnelligkeit der Veränderung ,zerstreut sich'
das, was ist, und ,tritt wiederum zusammen', oder vielmehr ist es so:
nicht 'wiederum' und nicht später, sondern gleichzeitig vereinigt es sich
und trennt sich und ,geht heran und geht fort'. Was entsteht, gelangt also niemals
zu einem wirklichen Sein, denn das Werden und Schaffen kommt niemals zum Aufhören
und Stillstehen, sondern vom Samen an bringt es unaufhörliche Wandlungen hervor
und schafft so zunächst die Leibesfrucht, dann das Kind, den Knaben, darauf
den Jugendlichen, den Jüngling, dann den Mann, den Alten und schließlich den
Greis, so daß immer das frühere Werden und das frühere Lebensalter in dem folgenden
untergeht. Es ist also lächerlich, wenn wir den einen Tod fürchten, da wir doch
schon so viele Tode gestorben sind und immer von neuem sterben. Denn nicht allein
Heraklits Wort gilt: ,Des Feuers Tod bedeutet Werden für die Luft, und
der Tod der Luft bedeutet für das Wasser Werden', deutlicher noch zeigt sich
dieser Wechsel an uns selbst. Denn der Mann geht dahin, wenn der Greis vollendet
ist, der Jüngling stirbt, wenn er sich in den Mann wandelt, und der Knabe geht
unter in dem Jüngling, das Kind in dem Knaben. Das Gestern ist in dem Heute
gestorben, und das Heute stirbt in dem Morgen. Niemand bleibt, und niemand ist
ein einziger, sondern wir werden viele, da die Substanz um ein Bild, um eine
gemeinsame Form herum sich sammelt und dann wieder entgleitet. Wie könnten wir
sonst, wenn wir immer dieselben blieben, jetzt an anderem unsere Freude haben
als früher? Wie könnten wir gerade das Entgegengesetzte lieben und hassen, bewundern
und tadeln, andere Reden führen, anderen Leidenschaften unterworfen sein, wenn
nicht aus dem Grunde, weil wir nicht mehr dieselbe Gestalt, Form und Gesinnung
haben? Ebensowenig nämlich, wie man ohne Wandlung
seiner selbst ein anderes Leben führen kann, ist der Mensch, der die Wandlung
durchmacht, noch derselbe wie vorher. Ist er aber nicht mehr derselbe, so ist
er überhaupt nicht mehr, und darin eben besteht die Wandlung, daß er aus dem
einen ein anderer wird. Aber darüber täuscht sich unsere Empfindung, da sie
nicht weiß, daß unser Sein nur Schein ist. - (
plu
)
Schein (2) Ich habe für mich entdeckt, daß die
alte Mensch- und Tierheit, ja die gesamte Urzeit und Vergangenheit alles empfindenden
Seins in mir fortdichtet, fortliebt, forthaßt, fortschließt, — ich bin plötzlich
mitten in diesem Traum erwacht,
aber nur zum Bewußtsein, daß ich eben träume und daß ich weiterträumen muß,
um nicht zugrunde zu gehen: wie der Nachtwandler weiterträumen muß, um nicht
hinabzustürzen. Was ist mir jetzt "Schein"! Wahrlich nicht der Gegensatz
irgend eines Wesens — was weiß ich von irgend welchem
Wesen auszusagen, als eben nur die Prädikate seines Scheins! Wahrlich nicht
eine tote Maske, die man einem unbekannten X aufsetzen und auch wohl abnehmen
konnte! Schein ist für mich das Wirkende und Lebende selber, das so weit in
seiner Selbstverspottung geht, mich fühlen zu lassen, daß hier Schein und Irrlicht
und Geistertanz und nichts mehr ist, — daß unter allen diesen Träumenden auch
ich, der "Erkennende", meinen Tanz tanze, daß der Erkennende ein Mittel
ist, den irdischen Tanz in die Länge zu ziehen, und insofern zu den Festordnern
des Daseins gehört, und daß die erhabene Konsequenz und Verbundenheit aller
Erkenntnisse vielleicht das höchste Mittel ist und sein wird, die Allgemeinheit
der Träumerei und die Allverständlichkeit aller dieser Träumenden untereinander
und eben damit die Dauer des Traumes aufrecht zu erhalten. - (
frw
)