aum und Zeit
Von zwei Trugschlüssen sollten wir uns trennen. Der erste ist das
Verwechseln von zeitlichen mit räumlichen Elementen. Raum, der
Schwindler, ist m diesen Notizen (die jetzt, während einer halbtägigen
Unterbrechung einer entscheidenden Reise, niedergeschrieben werden)
bereits denunziert worden; sein Prozeß wird zu einem späteren Stadium
unserer Untersuchung stattfinden. Die zweite Entlassung betrifft eine
uralte Sprachgewohnheit. Wir betrachten ‹Zeit› als eine Art Strom,
der zwar mit einem wirklichen Gebirgs-Sturzbach, weiß gegen schwarzen
Fels abgehoben, oder mit einem trübfarbenen Fluß in einem zugigen Tal
wenig zu tun hat, indes stets gleichbleibend durch unsere
chronographischen Landschaften fließt. Wir sind an das mythische
Schauspiel so gewöhnt, sind so darauf aus, jedes Zipfelchen Zeit zu
verflüssigen, daß wir am Ende nicht mehr fähig sind, von ‹Zeit› anders
als von physikalischer Bewegung zu sprechen. In Wirklichkeit rührt die
Empfindung ihrer Bewegung allerdings von vielen natürlichen oder
zumindest vertrauten Quellen her - des Körpers angeborenes Bewußtsein
seines eigenen Blutstroms, das uralte Schwindelgefühl, hervorgerufen von
aufsteigenden Sternen, und natürlich unsere Meßmethoden wie etwa die
kriechende Schattenlinie eines Gnomonen, das Rieseln eines
Stundenglases, der Trab eines Sekundenzeigers - und hier sind wir wieder
im ‹Raum›. Man beachte die Rahmen, die Behälter. Die Idee, daß ‹Zeit›
so natürlich «fließt», wie ein Apfel auf einen Gartentisch plumpst,
impliziert, daß sie in und durch etwas anderes fließt, und wenn wir
jenes «Etwas» als Raum annehmen, dann haben wir bloß eine Metapher, die
an einem Maßstab entlangfließt.
Aber hüte dich, anime meus, vor à la Marcel ondulierter modischer Kunst; vermeide das Proustsche Bett und la pointe assassine eines Wortspiels (selbst ein Selbstmord -wie jene, die ihren Verlaine kennen, bemerken werden).
Wir sind jetzt bereit, ‹Raum› in Angriff zu nehmen. Wir
verwerfen ohne Skrupel den künstlichen Begriff von raum-befleckter,
raum-schmarotzter Zeit, die Raum-Zeit
der Relativisten-Literatur. Jeder, dem es beliebt, mag behaupten, daß
‹Raum› das Äußere von ‹Zeit› sei oder der Körper von ‹Zeit›, oder daß
‹Raum› von ‹Zeit› durchflutet sei und umgekehrt, oder daß auf ganz
eigentümliche Weise ‹Raum› bloß das Abfallprodukt von ‹Zeit› sei, gar
ihr Leichnam, oder daß auf lange, unendlich lange Sicht ‹Zeit›
‹Raum› ist; diese Art von Geschwätz mag vergnüglich sein, zumal, wenn
wir jung sind; aber niemand soll mich glauben machen, daß die Bewegung
von Materie (sagen wir, eines Zeigers) über eine aufgeteilte Fläche
‹Raum› (sagen wir, ein Zifferblatt) von Natur aus identisch mit dem
«Ablauf» von Zeit ist. Bewegung von Materie überbrückt bloß die
Ausdehnung irgendeiner anderen greifbaren Materie, gegen die sie
gemessen wird, sagt uns aber nichts über die tatsächliche Struktur
ungreifbarer ‹Zeit›. Ähnlich ist ein Band mit Unterteilung, sogar eines
von endloser Länge, nicht ‹Raum› selbst, noch kann der genaueste
Kilometerzähler die Straße darstellen, die ich als schwarzen
Regen-Spiegel unter rollenden Rädern sehe, als klebriges Rauschen höre,
als feuchte Julinacht in den Alpen rieche und als glatten Untergrund
fühle. Wir armen Räumler sind in unserem dreidimensionalen Lacrimaval
besser der Ausdehnung als der Dauer angepaßt: Unser Körper ist größerer
Dehnung fähig, als willensmäßige Erinnerung sich rühmen kann. Ich kann
die Nummer meines neuen Wagens nicht auswendig lernen (obwohl ich erst
gestern versucht habe, sie in mnemonische Elemente zu zerlegen), aber
ich fühle den Asphalt unter meinen Vorderrädern, als ob sie Teile meines
Körpers wären. Dennoch ist ‹Raum› an sich (wie ‹Zeit›) nichts, das ich
begreifen kann: ein Ort, wo sich Bewegung ereignet. Ein Plasma, in dem
Materie - Konzentrationen von Raum-Plasma
- aufgebaut und eingeschlossen ist. Wir können die Matenekügelchen und
die Abstände zwischen ihnen messen, jedoch Raum-Plasma selbst ist nicht
zu errechnen.
Wir messen <Zeit> (ein Sekundenzeiger trabt oder ein Minutenzeiger
hüpft von einer aufgemalten Markierung zur nächsten) vermittels Raum
(ohne die Natur von beiden zu kennen), aber das Überbrücken von
<Raum> erfordert nicht immer <Zeit> - oder erfordert
zumindest nicht mehr Zeit als die «Jetzt»-Spitze der blendenden
Gegenwart in ihrer Höhlung enthält. Der Wahrnehmungsbesitz einer
Raumeinheit geschieht praktisch augenblicklich, wenn, zum Beispiel, das
Auge eines erfahrenen Autofahrers ein Verkehrszeichen aufnimmt - der
schwarze Mund und die saubere Bogeneinfassung in einem roten Dreieck
(eine Mischung aus Farbe und Form, die bei richtigem Hinsehen «in
Nullzeit» erkennen läßt, daß sie einen Straßentunnel bedeutet), oder
etwas von weniger unmittelbarer Wichtigkeit wie etwa das entzückende
Venuszeichen,
das falsch verstanden werden könnte als Erlaubnis für Hürchen, per
Daumen einsteigen zu dürfen, in Wahrheit jedoch dem Gläubigen oder dem
Touristen mitteilt, daß sich in dem hiesigen Fluß eine Kirche
widerspiegelt. Ich schlage vor, hier das Absatzende für diejenigen zu
kennzeichnen, die am Lenkrad lesen: Z
‹Raum› ist mit unseren Sinnesorganen des Sehens, Berührens und der muskulären Anstrengung verbunden; ‹Zeit›
vage mit dem Hören verknüpft (trotzdem würde ein tauber Mann das
«Vorübergehen» von Zeit unvergleichlich besser wahrnehmen, als ein
blinder, gliederloser Mann die Idee des «Vorübergehens» begriffe). «Raum
ist ein Schwärmen im Auge; Zeit ein Summen im Ohr», sagt John Shade, ein moderner Dichter, wie ein erfundener Philosoph {«Martin Gardiner») in Das doppelzüngige Universum,
Seite 165, zitiert. Raum flattert auf den Boden, Zeit aber bleibt
zwischen Denker und Daumen, wenn Monsieur Bergson seine Schere ansetzt.
Raum legt seine Eier in die Nester der Zeit: ein «vorher» hier, ein
«nachher» dort - und eine gesprenkelte Brut von Minkowskis
«Weltpunkten». Eine Strecke Raum ist, was die Organe betrifft, geistig
leichter zu messen als eine «Strecke» Zeit. Die Vorstellung von Raum muß
vor der von Zeit herausgebildet worden sein (Guyau in Whitrows
Essaysammlung). Die ununterscheidbare Leere (Locke) des
unendlichen Raums ist geistig unter scheid bar (und könnte in der Tat
nicht anders gedacht werden) von der ovoidischen «Öde» der Zeit. Raum
gedeiht auf Irrationalzahlen, Zeit ist nicht reduzierbar auf
Wandtafel-Wurzeln und Vögelchen. Der gleiche Raumabschnitt mag einer
Fliege weitläufiger erscheinen als dem Professor S. Alexander, aber ein
Augenblick für ihn bedeutet nicht «Stunden für eine Fliege», denn wenn
dem so wäre, würden Fliegen bestimmt nicht freiwillig die Klatsche
abwarten. Ich kann mir Raum nicht ohne Zeit vorstellen, wohl aber Zeit
ohne Raum. «Raum-Zeit» -diese häßliche Hybride, bei der sogar der
Bindestrich gekünstelt aussieht. Man kann ein Verächter von Raum sein
und ein Liebhaber von Zeit,
Es gibt Leute, die eine Straßenkarte falten können. Unser Autor nicht. - (ada)
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