Löschen  »Ich kann nicht in der Zeit zurückgehen.« Sie bückte auf und sah Chip halb entschuldigend, halb feindselig an. »Ich kann etwas, ja, aber Mr. Ashwood hat das maßlos übertrieben.«

»Ich lese deine Gedanken«, sagte Ashwood zu ihr und sah dabei etwas gequält aus, »Ich weiß, dass du die Vergangenheit verändern kannst. Du hast es schon einmal getan.«

»Ja, ich kann die Vergangenheit verändern, aber ich kann nicht in sie zurückgehen. Ich bin kein Zeitenpendler, wie Sie es Ihrem Tester weismachen wollen.«

»Wie verändern Sie dann die Vergangenheit?«, fragte Chip.

»Ich denke mich in sie hinein. In einen bestimmten Aspekt, in ein Ereignis oder in das, was jemand gesagt hat. Oder in eine Nebensächlichkeit, die geschehen ist und meiner Meinung nach nicht hätte geschehen sollen. Als ich es das erste Mal tat, als Kind ...«

»Damals war sie sechs Jahre alt«, unterbrach sie Ashwood. »Sie wohnte in Detroit, mit ihren Eltern zusammen, und sie zerbrach eine antike Keramikstatue, die ihr Vater wie einen Schatz gehütet hatte.«

»Hatte Ihr Vater das vorhergesehen?«, fragte Chip. »Mit seiner Präkog-Fähigkeit?«

»Ja, er hatte es vorhergesehen«, erwiderte Pat, »und hatte mich bereits eine Woche, bevor ich die Statue zerbrach, bestraft. Er sagte, dass es unvermeidlich war. Das Präkog-Talent - Sie können etwas vorhersehen, aber sie können nichts daran ändern. Dann, nachdem die Statue zerbrochen war - nachdem ich sie zerbrochen hatte, besser gesagt -, grübelte ich darüber nach und dachte an die Woche zurück, bevor sie kaputt ging, als ich nämlich keinen Nachtisch bekam und schon um fünf Uhr nachmittags ins Bett musste. Zum Teufel noch mal, dachte ich -oder was man sonst als Kind so denkt -, gibt es denn keine Möglichkeit, solche Ereignisse zu verhindern? Die Präkog-Fähigkeit meines Vaters erschien mir minderwertig, da er damit ja doch nichts ändern konnte - ich habe auch heute noch dieses Gefühl, eine Art von Verachtung. Ich verbrachte also einen guten Monat damit, meinen ganzen Willen darauf zu konzentrieren, die Statue wieder in ein Stück zu verwandeln. In Gedanken lebte ich ständig in der Zeit, bevor sie zerbrach, und hielt mir immer wieder vor Augen, wie sie ausgesehen hatte ... es war fürchterlich. Und dann eines Morgens, als ich aufstand - ich hatte auch nachts davon geträumt -, da stand sie. So wie sie immer dagestanden war, in einem Stück.« Sichtlich angespannt lehnte sich Pat zu Chip hinüber und fügte mit scharfer, entschiedener Stimme hinzu: »Aber weder meine Mutter noch mein Vater bemerkten irgendetwas. Für sie schien es völlig normal, dass die Statue heil war, denn für sie war sie immer heil gewesen. Nur ich konnte mich an eine andere Vergangenheit erinnern.«  - (ubik)

Löschen (2)  Ich will nicht dahingehend mißverstanden werden, daß ich bei meinen Löschungen etwa von rein privaten Interessen geleitet wäre, wo ich doch immer darauf bedacht bin, im Interesse des Ganzen zu handeln (und folglich auch im eigenen, aber indirekt). Wenn ich zunächst, um mal irgendwo anzufangen, alle öffentlichen Verwaltungsgebäude, die mir vor Augen gekommen sind, ausgelöscht habe, und nicht nur die Gebäude mit ihren breiten Treppenaufgängen und Säulenportalen und Korridoren und Vorzimmern, und Karteien und Akten und Zirkularen, sondern auch die Abteilungsleiter, Generaldirektoren, Vizeinspektoren und Stellvertreter, das Stammpersonal und die Hilfskräfte, so habe ich das nur getan, weil ich glaube, daß ihre Existenz schädlich oder unnütz ist für die Harmonie des Ganzen.

Um diese Tageszeit strömen Scharen von Angestellten aus ihren überheizten Büros, knöpfen sich ihre Mäntel mit den synthetischen Pelzkragen zu und drängen sich in die Busse. Ich blinzle, und sie sind verschwunden; nur noch vereinzelte Fußgänger sind in der Ferne zu sehen auf den leeren Straßen, die ich vorsorglich von allen PKWs und LKWs und Bussen gesäubert habe. Schön sieht das aus, so ein leergefegter Straßenbelag, glatt und gerade wie eine Bowlingbahn.

Als nächstes lösche ich die Kasernen, Wachmannschaften, Kommissariate: Alle Uniformierten verschwinden, als wären sie nie gewesen. Vielleicht ist mir dabei sozusagen ein bißchen die Hand ausgerutscht: Ich merke, daß die Feuerwehrleute das gleiche Schicksal erleiden, die Briefträger, die Männer von der städtischen Müllabfuhr und andere Kategorien, die verdientermaßen eine bessere Behandlung erwarten konnten. Aber was geschehen ist, ist geschehen, man kann schließlich nicht auf jede Kleinigkeit achten. Um keine Mißhelligkeiten entstehen zu lassen, schaffe ich kurzerhand die Brände ab, den Müll und desgleichen die Post, die einem ja letzten Endes doch immer nur Unangenehmes bringt.

Ich kontrolliere, ob keine Kliniken, Krankenhäuser, Heil-und Pflegeanstalten stehengeblieben sind: Ärzte, Pflegepersonal und Patienten abzuschaffen, scheint mir die einzig mögliche Gesundheitspflege zu sein. Dann kommen die Gerichte dran mit allen Richtern, Anwälten, Angeklagten und Klägern, die ganze Rechtspflege, auch die Gefängnisse mit den Gefangenen und ihren Wärtern. Dann lösche ich die Universität mit dem ganzen akademischen Lehrkörper, die Akademie der Wissenschaften und Künste, die Museen, die Bibliotheken, die Denkmäler mit den entsprechenden Denkmalspflegern und Kuratoren, die Theater, die Kinos, das Fernsehen und die Zeitungen. Wenn sie meinen, sie könnten mich bremsen mit dem Respekt vor der Kultur, haben sie sich geschnitten.

Dann mache ich mich an die ökonomische Basis, die wirtschaftlichen Strukturen, die uns schon viel zu lange bedrängen mit ihrem maßlosen Anspruch, unser Leben zu bestimmen. Für was halten sie sich? Stück für Stück lösche ich die Läden, Geschäfte, Supermärkte und Kaufhäuser, beginnend mit denen für den unmittelbaren Lebensbedarf, um schließlich bei denen für Luxusartikel und Überflußkonsum zu enden: Zuerst leere ich die Auslagen, dann lasse ich die Verkaufstische und Regale verschwinden, dann die Verkäuferinnen, Kassiererinnen, Filialleiter. Die Menge der Kunden streckt einen Moment lang verdutzt die Hände ins Leere, sieht ihre Drahtkorbwagen sich verflüchtigen, dann wird auch sie vom Nichts verschluckt. Vom Konsum gehe ich auf die Produktion zurück: Ich liquidiere die Leicht- und Schwerindustrie, die Rohstoffe und Energiequellen. Und die Landwirtschaft? Weg damit, ist sowieso vergiftet! Und damit es nicht heißt, ich hätte einen regressiven Hang zu den primitiven Gesellschaften, tilge ich auch die Jagd und den Fischfang.

Die Natur ...? Haha, ihr glaubt wohl, ich hätte noch nicht begriffen, daß dieser ganze Naturfimmel auch bloß ein raffinierter Schwindel ist? Soll sie doch sterben, die Natur! Es genügt, daß eine halbwegs solide Erdkruste unter den Füßen verbleibt und ringsum die Leere.

Ich flaniere weiter über den Großen Prospekt, der sich jetzt nicht mehr von der grenzenlosen, verödeten und vereisten Ebene unterscheidet. Es gibt keine Mauern mehr, so weit das Auge reicht, auch keine Berge oder Hügel, weder Flüsse noch Seen noch Meere, nur eine glatte graue Eisfläche, fest wie Basalt. Auf die Dinge zu verzichten, ist gar nicht so schwierig, wie man meint: alles nur eine Frage des richtigen Anfangs. Wenn es dir erstmal gelungen ist, dich von etwas zu lösen, was du für lebensnotwendig hieltest, merkst du, daß du dich auch von etwas anderem lösen kannst und dann von etwas drittem und schließlich von immer mehr. So laufe ich nun über diese leere Fläche, zu der die Welt geworden ist.  - Italo Calvino, Wenn ein Reisender in einer Winternacht. München 2007 (Zuerst 1979)
 

 

Verschwinden

 

  Oberbegriffe
zurück 

.. im Thesaurus ...

weiter im Text 
Unterbegriffe

 

Verwandte Begriffe
Rückgangig machenLicht Feuer
Synonyme