- (ubik)
Vorhersehen (2) Lange kauerte die große, schimmernde Gestalt in der Dunkelheit. Es war in einem Lagerraum. Kisten und Kartons waren an allen Seiten aufgereiht, ordentlich gestapelt, sorgfältig gezählt und beschriftet. Alles still und verlassen.
Aber in wenigen Augenblicken stürmten Leute herein und durchsuchten den Raum. Er konnte es sehen. Er sah sie in allen Winkeln des Raumes, klar und deutlich, Männer mit Laserrohren, finsteren Gesichtern, die sich mit mordgierigem Blick heranschlichen.
Das Bild war eines von vielen. Eines aus einer Vielzahl scharf konturierter Szenen, die auf gerader Linie vor ihm ausgebreitet lagen. Und jede einzelne Szene war wiederum mit einer Vielzahl anderer verknüpft, die schließlich unschärfer wurden und allmählich verschwanden. Eine fortschreitende Vagheit, jede Verflechtung weniger ausgeprägt.
Aber die unmittelbare Szene, die, die ihm am nächsten lag, war deutlich sichtbar. Er konnte die bewaffneten Männer mühelos ausmachen. Daher war es nötig, den Raum verlassen zu haben, bevor sie auftauchten.
Die goldene Gestalt stand ruhig auf und ging zur Tür. Der Gang war leer; er konnte sich bereits draußen sehen, in dem leeren, hallenden Flur aus Metall mit dem indirekten Licht. Er stieß kühn die Tür auf und trat hinaus.
Ein Fahrstuhl blinkte am anderen Ende des Flurs. Er ging zum Fahrstuhl und betrat ihn. In fünf Minuten würde eine Gruppe Wachleute angelaufen kommen und in den Fahrstuhl springen. Zu diesem Zeitpunkt würde er ihn bereits verlassen und wieder nach unten geschickt haben. Jetzt drückte er einen Knopf und fuhr ins nächste Stockwerk.
Er trat hinaus auf einen verlassenen Gang. Es war niemand zu sehen. Das überraschte ihn nicht. Er war nicht zu überraschen. Das Element existierte für ihn nicht. Die Positionen der Dinge, die räumlichen Verhältnisse der Materie in der unmittelbaren Zukunft waren für ihn so sicher wie sein eigener Körper. Das einzig Unbekannte war das, was bereits nicht mehr war. Auf eine verschwommene, undeutliche Weise hatte er sich gelegentlich gefragt, wohin die Dinge verschwanden, wenn er an ihnen vorübergegangen war.
Er kam zu einem kleinen Vorratsschrank. Der war gerade durchsucht worden. Er würde erst wieder in einer halben Stunde geöffnet werden. Bis dahin hatte er Zeit; so weit konnte er voraussehen. Und dann -
Und dann würde er einen anderen Bereich sehen können, eine Region, die noch weiter dahinter lag. Er war immer in Bewegung, stieß in neue Regionen vor, die er noch nie gesehen hatte. Ein sich ständig öffnendes Panorama aus Bildern und Szenen, gefrorene Landschaften, die vor ihm ausgebreitet lagen. Alle Objekte waren fest. Figuren auf einem riesigen Schachbrett, zwischen denen er sich hindurchbewegte, die Arme verschränkt, das Gesicht ruhig. Ein unbeteiligter Beobachter, der Objekte, die zeitlich vor ihm lagen, genauso deutlich sah wie die vor seinen Füßen.
Im Augenblick, während er in dem kleinen Vorratsschrank kauerte, sah er für die nächste halbe Stunde eine ungewöhnliche Vielfalt an Szenen voraus. Es würde viel passieren. Die halbe Stunde war in ein unglaublich komplexes System einzelner Konfigurationen unterteilt. Er hatte eine kritische Region erreicht; er würde bald durch Welten gehen, die auf komplizierte Weise miteinander verschlungen waren.
Er konzentrierte sich auf eine Szene, die noch zehn Minuten entfernt lag.
Sie zeigte, wie ein dreidimensionales Standfoto, ein schweres Geschütz am Ende
des Korridors, das auf das andere Ende zielte. Männer gingen vorsichtig von
Tür zu Tür, kontrollierten jeden einzelnen Raum, wie sie es schon mehrmals getan
hatten. Am Ende der halben Stunde hatten sie den Vorratsschrank erreicht. Eine
Szene zeigte, wie sie hineinsahen. Da war er natürlich bereits verschwunden.
Er kam in dieser Szene nicht vor. Er war zu einer anderen weitergegangen. - Philip K. Dick, Der
goldene Mann,
in: Das Vater-Ding. Zürich 2000 (zuerst 1954)
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