eichenmetamorphose Jahrhunderte
lang blieb der Leib des heiligen Franz Xaver unversehrt in dem trägen, malariaverseuchten
Klima; er kam unversehrt aus einer Kalkgrube hervor; hielt sich auf im regnerischen
Malaysia; fuhr übers Meer; und wurde in Goa glorreich auf einen toten Marmorthron
erhoben. In höfischen Abbildungen treten seine Wunder und seine barmherzigen
Taten um ihn: geborgene Schiffbrüchige, erweckte Tote, betreute Aussätzige.
In dem immer älter werdenden Leichnam blieb das Blut rot und lebendig. Die Leiche
erschien als das Meisterstück einer manieristischen Phantasie innerhalb einer
barocken Erfindung; eine Hyperbel, die sich unter Metaphern verirrt hat; ein
»concetto«, ein Einfall, eine Pointe. Aber jetzt ist es nicht mehr so: Seit
einigen Jahrzehnten schon ist der Leib des heiligen Franz Xaver in Auflösung
begriffen. Nachdem für die Verwesung die Zeit endgültig vorbei ist, blättert
der kostbare Tote ab, zerbröselt langsam, die kompakte Mumie geht in Staub über.
Vor einigen Jahren wurde der Leichnam zur Anbetung ausgesetzt: Hunderttausende
kamen, sicherlich nicht lauter Katholiken. Es war wohl das letzte Mal, daß man
ihn sehen und noch erkennen konnte; das Wunder geht nun seinem Abschluß entgegen,
denn ein Wunder war es freilich wie alles, was an diesen Orten geschieht; aber
zu einem Wunder gehört auch der Hang zur Metamorphose: es beliebt den Göttern,
sich zu verwandeln; der Leib des heiligen Franz Xaver ist einem der endlosen,
sich endlos wiederholenden einheimischen Märchen ins Netz gegangen und wagt
sich auf den dem Abendland unbekannten Weg eines avatara, einer Wiedergeburt.
Er hat sich verführen lassen, ist Inder
geworden. - Giorgio Manganelli,
Das indische Experiment. Berlin 2004 (zuerst 1992)
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