»Der Mensch von 1950: Er fickte und las Zeitungen.«
Genau! Das war der Mensch von 1950: Er fickte und las Zeitungen. Der Mensch von heute hat die Reihenfolge natürlich umgedreht: Er liest Zeitungen und fickt. Und wenn das neue Jahrtausend anbricht, wird die Gattung auf das Zeitunglesen ganz verzichten. Dann muß der Satz lauten: Der Mensch des Jahres 2000 fickt und sieht fern. Womöglich gleichzeitig.
Es genügt, ein wenig mit ihm zu spielen, und der Satz enthüllt von selber,
daß außer Unfug nichts an ihm dran ist. Aber der Satz ist ernst gemeint. Und
er stammt keineswegs von Charles Bukowski, Henry Miller oder Werner Schwab,
sondern von einem Autor, der für seine Zartheit und Menschlichkeit bekannt war
und noch dazu einen Ruf als Denker hat, nämlich von Albert Camus. 1951, als
der spätere Nobelpreisträger den Satz in sein Tagebuch notierte, war er 38 Jahre
alt - und hätte wissen können, was ein dummer Satz ist. Ich will nicht Camus
schmähen; ich bin auch nicht der weit verbreiteten Ansicht, daß mindere Werke
oder mißratene Sätze einen Autor diskreditieren können. Ich greife den Satz
nur heraus, um auf ein ärgerliches Berufsproblem von Schriftstellern hinzuweisen:
auf den ungesicherten Status ihrer Wahrnehmungen. Unter den Philosophen gelten
diejenigen als zuverlässiger, die mit einem erkenntniskritischen Text geklärt
haben, wie sie zu ihren besonderen Einblicken gekommen sind. Unter Schriftstellern
hat sich eine solche Qualifikation leider nicht eingebürgert. Ihre »Kompetenz«
kommt auf gröbere Weise zustande. Je mehr ihr Ansehen wächst, desto unaufhaltsamer
werden sie zu öffentlichen Instanzen. Wer ein paar anständige Romane oder Theaterstücke
geschrieben hat, gilt als Experte fürs Allgemeine. Viele Autoren fallen auf
diese Zuschreibungen gern herein. - Wilhelm Genazino, Achtung Baustelle.
Frankfurt am Main 1998
Kompetenz (2)
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