eitungsleser   Hinten am Flusse saß der Müller — mir wurde unbehaglich —; er studierte ein gewaltiges Zeitungsblatt. Nachdem er es gelesen und gefressen hatte, dampfte Rauch aus seinen Ohren, er wurde kupfrig, stand auf und hielt sich seinen Hängebauch mit beiden Händen, während er das Ufer auf- und niederstürmte. Dabei blickte er wild um sich und stieß schrille Pfiffe aus. Endlich fiel er wie vom Schlage getroffen zu Boden, erblaßte, sein Leib wurde licht und durchsichtig, und man sah deutlich in seinen Eingeweiden zwei kleine Eisenbahnzüge herumsausen; sie schienen sich fangen zu wollen, blitzschnell wurde eine Darmschlinge nach der andern durchfahren. - Alfred Kubin, Die Andere Seite. München 1975 (zuerst 1909)

Zeitungsleser (2)  Gut. Die Zeitung war da. Rasch fand Lamb die Stelle des Berichtes wieder, an der er bei seiner Lektüre unterbrochen worden war, und fuhr fort zu lesen. Als die Story auf Seite achtzehn fortgesetzt wurde, war Lamb nahezu am Ende seiner haptischen Möglichkeiten, aber unter Zuhilfenahme einer geschickt eingesetzten langen Zunge gelang es ihm, die gewünschte Seite aufzublättern. Kaum hatte er diesen Triumph errungen, sagte ihm eine innere Stimme, aufzublicken. Walker, in einen Bademantel gehüllt, folgte jeder seiner Bewegungen mit allen Zeichen höchsten Erstaunens.

»Verdammt will ich sein«, sagte Walker leise. Dann rief er:

»May, komm mal her, wenn du was Komisches sehen willst - ein Pferd, das die Sonntagszeitung liest.« »Unsinn«, erwiderte seine Frau, kam auf die Veranda und blickte prüfend auf die feuchte Zeitung. »Der arme Narr, er hat versucht, die Zeitung zu fressen, das ist alles. Aber was für ein prachtvoller Hengst! Wem er wohl gehört?«

Sie hat mich einen armen Narren genannt, dachte Lamb bei sich, dabei ist sie das dümmste Frauenzimmer in der ganzen Gegend. Aber, immerhin hat sie die Gabe zu sehen, daß ich schön bin. Und das bin ich. Sehr.

Lamb blickte sie mit hochgezogenen Brauen an, und Mrs. Walker war sichtbar beeindruckt.

»Ein merkwürdiges Pferd«, räumte sie ein. »Vielleicht war es, unbegreiflich zwar, an der Zeitung interessiert.« Lamb machte ein zustimmendes Geräusch. Walker, der den Anstrengungen des Pferdes gefolgt war, nahm die aufgeschlagene Seite näher unter die Lupe. Bis zum Ende der Story war es nur noch eine Spalte.

»Ich werd ihn mal auf die Probe stellen«, sagte er und fing an, laut zu lesen.

Lamb, der sofort vergaß, daß er ein Pferd war, ließ sich nieder und hörte zu. Von Zeit zu Zeit, wenn etwas Eindrucksvolles kam, nickte er mit dem Kopf, und jedesmal, wenn er das tat, war Mr. Walker so bewegt, daß er kaum weiterlesen konnte. Mrs. Walker zog einen Korbsessel heran und setzte sich. Auch ihr Interesse rührte sich, für beide - für das Pferd und für die Story. Das war schon ein sonderbares Sonntagmorgenbild: May Walker, wie er gemütlich auf der obersten Stufe saß und mit emsiger Sorgfalt vorlas, und ein Pferd, wie es in wirklich komischer Haltung dasaß und mit aufgestellten Ohren lauschte. (Als die Walkers diese Geschichte später im Golf-Club versuchten zum besten zu geben, wurden sie so lange gestichelt, bis sie in mürrisches Schweigen verfielen.)

Kaum war der Artikel zu Ende, stand Lamb auf und machte eine höfliche Verbeugung. So höflich, daß Walker die Verbeugung unwillkürlich und mit der gleichen Höflichkeit erwiderte. Daraufhin schritt Mr. Lamb vornehm und gesittet die Einfahrt hinab und trabte in die High Hill Road.

Ein guter Kerl, dieser Walker, dachte Lamb. Ich werde an ihn denken, sollte ich jemals zu meinem ehemaligen Selbst zurückfinden. Wirklich mal einer, der kein Hasenfuß ist. Auf der Veranda drehte sich der Mann zu seiner Frau um.

»Well«, sagte Walker, »wenn das nicht das interessanteste Pferd ist, das ich jemals gesehen habe.« - (lam)

Zeitungsleser (3)  Ein kleiner Angestellter - eine Gestalt, auf die nicht von ungefähr des Autors tiefe und seelenverwandte Zuneigung zu den großen russischen Schriftstellern abfärbt - nimmt irgendwann in seinem. Leben die Gewohnheit an, sich jeden Morgen, bevor er ins Büro geht, die Zeitung zu kaufen. Die Zeitung ist die ‹Unità›. Man kann nicht behaupten, der kleine Angestellte habe sich zwischen den vielen Zeitungen für die eine entschieden: Seit dem Augenblick, in dem er beschlossen hat, sich täglich eine Zeitung zu kaufen, kauft er selbstverständlich die ‹Unità›. Sie ist seine Zeitung. Seiner Bildung und seinem Verhalten nach ist er nur vage kommunistisch orientiert, doch von Instinkt und Wesen her ist er ein eingefleischter Kommunist.

Als der Chef des Büros, in dem er arbeitet, ihn mit der ‹Unità› in der Jackentasche kommen sieht, ändert sich seine Einstellung zu ihm: Sein Vertrauen wandelt sich in Mißtrauen. Eines Tages sagt er ihm klipp und klar, daß er als Christdemokrat keinen Kommunisten in seiner Nähe haben wolle. Der Angestellte verzichtet auf die ‹Unità› und tritt schließlich der Democrazia Cristiana bei. Eines Tages jedoch passiert etwas, das das Leben des Angestellten Marco Trigillo wie ein Erdbeben erschüttert: Die Auswirkungen dieses Ereignisses werden über achtzig Seiten hm beschrieben, ohne daß der gespannte Leser erfährt, was eigentlich geschehen ist. Auf Seite achtzig wird endlich offenbar, was Trigillos Welt auf der ersten Seite so erschüttert hat: Sein Chef, Dr. Foti, ist Leser der ‹Unità› geworden.

Nachdem er die tiefe Verwirrung, in die ihn dieses Ereignis gestürzt hatte, überwunden hat, beginnt Trigillo seinen Chef in wachsendem Maße zu hassen, und die Gründe dieses Hasses buchstabiert er sich aus Kants ‹Kritik der reinen< und der praktischen Vernunft› zusammen. Bis er schließlich zur befreienden Tat schreitet: Er plant und begeht das perfekte Verbrechen. Dr. Foti fliegt aus einem Fenster im vierten Stock und landet zerschmettert auf dem Bürgersteig, genau in dem Augenblick, als er wie jeden Tag seinem neuen Glauben gehuldigt, das heißt die ‹Unità gelesen hatte. - Sebastiano Addamo, nach: Leonardo Sciascia, Schwarz auf schwarz. München 1991 (dtv 11328, zuerst 1979)

Zeitungsleser (4)  

- Loriot, nach: Das Tintenfaß. 10. Jahrg., 24. Folge. Zürich 1974 (Diogenes)

Zeitungsleser (5)  Auf dem Kackstuhl hockend, entfaltete er seine Zeitung und schlug auf den entblößten Knien die Seiten um. Irgendwas Neues und Leichtes. Keine große Eile. Ruhig noch ein bißchen zurückhalten. Unser Preisausschreiben, der Leckerbissen der Woche. Matchams Meisterstreich. Von  Mr. Philip  Beaufoy, Playgoers' Club, London. Honorar in Höhe von einer Guinee pro Spalte wurde an den Verfasser überwiesen. Dreieinhalb. Drei Pfund drei. Drei Pfund dreizehn-sechs. In Ruhe las er, seinen Drang noch unterdrückend, die erste Spalte und begann, schon nachgebend, doch mit Widerstreben noch, die zweite. Auf ihrer Mitte angelangt, gab er seinen letzten Widerstand auf und erlaubte seinen Eingeweiden, sich zu erleichtern, ganz so gemächlich, wie er las, und immer noch geduldig lesend, die leichte Verstopfung von gestern ganz verschwunden. Hoffentlich ists nicht zu groß, geht sonst mit den Hämorrhoiden wieder los. Nein, grade richtig. So. Ah! Bei Hartleibigkeit eine Tablette Cascara sagrada. Könnte alles im Leben so. Es bewegte oder berührte ihn nicht weiter, aber es war etwas Flottes und Sauberes. Drucken jetzt praktisch alles.

Sauregurkenzeit. Er las weiter, gelassen über seinem eigenen aufsteigenden Geruch sitzend. Bestimmt eine saubere Sache. Matcham denkt noch oft an den Meisterstreich, durch welchen er die lachende Hexe gewann, die nunmehr. Fängt moralisch an und hört auch so auf, Hand in Hand. Gar nicht schlecht. Er überflog noch einmal, was er gelesen hatte, und während er ruhig sein Wasser abfließen fühlte, beneidete er freundlich Mr. Beaufoy, der das geschrieben und drei Pfund dreizehn-sechs Honorar dafür bekommen hatte. - (joy)

Zeitungsleser (6)  

Zeitungsleser (7)  

Zeitungsleser (8, fortshrittlicher)  

  - N.N.

Zeitungsleser (9)

- Frédéric Fontenoy

Zeitungsleser (10)

Unterirdisch kriecht die Schlange,
Jeder lange
Sich die Zeitung,
Was im Schwange,
In der Leitung,
Alles kaut der Gummiesser,
Zeitungsfresser.

Greis, Soldat, Athlet, Erpresser?
Ausradiert wie mit dem Messer,
Die Gesichter, keiner besser
Als der andre, ganz Paris
Von der Stirne bis zum Nabel -
Mädchen, laß es,
Hast du es geboren, faß es:
Einen Zeitungsfresser.

Schau - »Er lebt mit seiner Schwester,
kein - »Erschlug den Vater. - Toll!«
Schaukeln in vertanen Dingen,
Pumpen sie sich voll.

Was ist denn für diese Menschen,
Wenn sie schlucken, was gewesen,
Sonnenauf- und -Untergang.
Zeitungslesen.

Zeitung lies: Geläster.
Zeitung lies: Der Feind.
Keine Spalte ohne Ekel,
Keine Zeile nicht verschweint.

O und was am Jüngsten Tage
Tun sie dann, wenn sie gewesen?    
Schnell die Uhr und - Zeitunglesen.

Uralt mütterlicher Schreck:
»Er verschwand, ging, ging verloren!«
Schlimmer ward, als Schwarzens Pulver,
Die Presse Gutenbergs geboren.

Lieber friedlich auf dem Friedhof
Als im Lazarett verwesen:
Krätze-kratzen,
Zeitunglesen.

Wer verdirbt den Geist so mancher
Söhne? Opfert ihre Leiber?
Blutverpanscher,
Zeitungsschreiber.

So, Freunde, so weit, so gut,
Daß ich nicht noch weiter gehe,
Das ist, was ich denke, wenn ich
Mit dem Manuskript dastehe -

Steh ich da vor dem Gesicht
(etwas Leereres gibt es nicht)
Also vor dem Nichtgesicht
Redakteur mit Sinn und Zweck,

Zeitungsdreck.

- Marina Zwetajewa (Übs. Christa Reinig), nach: M. Z., Vogelbeerbaum. Hg. Fritz Mierau. Berlin 1986

Zeitungsleser (11)  Stunden verbringt der Gefangene mit Zeitungslektüre. Ausschnitte kann und darf er nicht machen, eine Schere wäre zu gefährlich, damit kann man sich umbringen. Er schreibt Informationen und Kommentare ab, mit kleiner sparsamer Schrift. Dafür stand ihm zuerst nur ein Schulheft zur Verfugung, heute benutzt er ein steif gebundenes Buch mit leeren Seiten, das ein halbes Jahr vorhält. Wenn das Buch vollgeschrieben ist, muß es abgegeben werden. Die vier Direktoren treten zusammen und überwachen seine Vernichtung. - (met)

Zeitungsleser (12)  Mozziconi war immer ein eifriger Leser alter Zeitungen gewesen und auch jetzt ging er manchmal zur großen Quaimauer am Tiber und wartete, bis die Römer ihr Altpapier herunterwarfen in der Hoffnung, darunter ein paar Zeitungen des Vortags zu finden. Er las aber auch die Zeitungen, die eine Woche oder einen Monat alt waren. Manche Zeitungen konnte Mozziconi jedoch gar nicht lesen, weil sie vom Anfang bis zum Ende voll von Lügen waren. Dann setzte er sich mit dem Bleistift in der Hand hin und fing an zu verbessern. Er änderte die Substantive, die Adverbien und die Adjektive, manche Sätze kürzte er, andere verlängerte er, die Titel schrieb er meistens neu und fast immer änderte er den Schluß. Manchmal arbeitete er den ganzen Tag, um eine Zeitung zu korrigieren, und wenn er sie korrigiert hatte, las er sie und lernte viel.  - Luigi Malerba, Geschichten vom Ufer des Tiber. Frankfurt am Main 1997

Zeitungsleser (13)

 

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