Koagulat  Ich erinnere mich an ein kurioses Zitat, ich glaube von Roger Fry: Ein Kind mit einer frühen Begabung fürs Zeichnen erklärte seine Kompositionsmethode, indem es sagte: First I think and then I draw a line around my think (sic!). Im Falle meiner Erzählungen geschieht genau das Gegenteil: die verbale Linie, die sie einkreisen wird, entsteht ohne jedes vorherige »think«, es gibt da so etwas wie ein riesiges Koagulat, einen ganzen Block, der bereits die Erzählung ist, das ist völlig klar, obgleich einem nichts dunkler erscheinen mag, und ebendarin besteht diese gewisse Ähnlichkeit mit dem Traum, jedoch mit umgekehrtem Vorzeichen, die es in der Komposition solcher Erzählungen gibt, haben wir doch alle ganz sonnenklare Dinge geträumt, die, sobald wir erwachten, ein formloses Koagulat, eine Masse ohne jeden Sinn bildeten. Träumt man wach, wenn man eine Kurzgeschichte schreibt? Wir wissen, wie man über die Grenzen zwischen Träumen und Wachen denkt: man braucht nur einen chinesischen Philosophen oder einen Schmetterling zu fragen. Soviel ist sicher, wenn die Ähnlichkeit auch evident ist, verhält es sich doch umgekehrt, wenigstens in meinem Fall, da ich von dem formlosen Block ausgehe und etwas schreibe, aus dem erst dann eine zusammenhängende und in sich gültige Erzählung wird. Die Erinnerung, zweifellos von einem schwindelerregenden Erlebnis traumatisiert, bewahrt im einzelnen die Eindrücke jener Augenblicke und erlaubt mir, ihnen hier im Maße des Möglichen ihre Ratio zu geben. Da ist die Masse, die die Erzählung ist (aber welche Erzählung? Ich weiß es nicht und ich weiß es, alles wird von etwas in mir gesehen, das nicht mein Bewußtsein ist, doch das in dieser Stunde außerhalb der Zeit und der Vernunft mehr taugt), da ist die Beklemmung und die innere Unruhe und die Verwunderung, denn auch die Eindrücke und die Gefühle widersprechen einander in diesen Augenblicken, und unter diesen Umständen eine Erzählung zu schreiben, ist fürchterlich und wunderbar zugleich, es gibt eine begeisternde Verzweiflung, eine verzweifelte Begeisterung; jetzt oder nie, und die Befürchtung, es könnte nie sein, reizt das Jetzt auf, macht aus ihm eine rasende Schreibmaschine, läßt einen die Situation vergessen und schafft die Umgebting ab. Und dann, je weiter man vorankommt, wird die dunkle Masse immer klarer, es ist unglaublich, aber alles ist äußerst leicht, so als wäre die Geschichte bereits mit sympathetischer Tinte geschrieben und man brauchte nur mit einem Pinselchen darüber zu streichen, um sie zu wecken. Auf diese Weise eine Erzählung zu schreiben macht überhaupt keine Arbeit; alles ist vorher geschehen, und dieses Vorher, das sich auf einer Ebene ereignete, wo, um es mit Rimbaud zu sagen, »in der Tiefe die Symphonie sich regt«, ist das, was die Obsession, dieses scheußliche Koagulat bewirkt hat, das man sich in Wortfetzen abreißen mußte. Und deshalb, weil alles von vornherein in einem Bereich entschieden ist, von dem ich bei Tage nichts weiß, und nicht einmal der Ausgang der Erzählung ein Problem darstellt, weiß ich, daß ich schreiben kann, ohne innezuhalten, daß ich zusehen kann, wie die Episoden sich ergeben und einander ablösen, und daß das Ende in dem ursprünglichen Koagulat ebenso beschlossen ist wie der Anfang. Ich erinnere mich an den Morgen, als mich »Una flor amarilla« überfiel: der amorphe Block war die Idee von dem Mann, der einem Kind begegnet, das ihm ähnelt, und der die blendende Intuition hat, daß wir unsterblich sind. Ich schrieb die ersten Szenen, ohne im geringsten zu zögern, aber ich wußte nicht, was geschehen wird, ich kannte den Ausgang der Geschichte nicht. Wenn mich in dem Augenblick jemand unterbrochen hätte, um mir zu sagen: »Am Schluß wird der Mann Luc vergiften«, wäre ich sprachlos gewesen. Am Schluß vergiftet der Mann Luc, aber das geschah wie alles Vorangehende, einem Knäuel gleich, das sich in dem Maße abwickelt, wie man am Faden zieht; tatsächlich kommt meinen Erzählungen keinerlei literarischer Verdienst zu, habe ich doch nicht die geringste Mühe auf sie verwandt. Wenn einige der Vergessenheit trotzen, so deshalb, weil ich es vermocht habe, ohne allzu große Einbußen diese latenten Bilder einer tiefen Psyche zu empfangen und zu übertragen, das übrige ist nur eine gewisse Erfahrung darin, das Mysterium nicht zu verfälschen, es so nah wie möglich seinem Ursprung zu belassen, samt seinem ursprünglichen Zittern, seinem archetypischen Stammeln.    - (cort2)
 
 

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