Gewölbe

 

- Walter Schnackenberg

Gewölbe (2)  Wir gehen durch eine kleine, armselige Kapelle und dann eine breite steinerne Treppe hinunter. Und plötzlich sehe ich vor uns ein riesenhaft breites und hohes Gewölbe, an dessen Wänden ganze Völkerschaften bizarr und grotesk bekleideter Skelette hängen oder liegen. Die einen hängen Seite an Seite in der Luft, andere liegen auf einer von fünf Steinplatten, die vom Fußboden bis unter die Decke übereinander angebracht sind. Eine Reihe Toter steht aufrecht auf dem Boden, dicht an dicht, und es hat den Anschein, als redeten die gräßlichen Häupter miteinander. Die einen sind von scheußlichen Gewächsen zerfressen, die ihre Kieferpartien und Gebeine noch ärger entstellen, die anderen haben noch ihre Haare, andere wieder ein Schnurrbartende oder eine Strähne des einstigen Vollbarts.

Die einen haben ihre leeren Augenhöhlen nach oben gerichtet, die anderen abwärts; manche scheinen gerade wild aufzulachen, manche sich wie im Schmerz zu krümmen, und alle zeigen Anzeichen einer übermenschlichen Angst, von der sie gepeinigt werden.

Und sie sind angezogen, diese Toten, diese armen scheußlichen und dabei lächerlichen Toten — angezogen von ihren Angehörigen, die sie aus dem Sarg gezerrt haben, um ihnen in dieser Versammlung des Schrek-kens einen Ehrenplatz einzuräumen. Fast alle tragen sie eine Art schwarze Robe, deren Kapuze bei manchen über den Kopf gezogen ist. Aber es sind auch welche darunter, die man offensichtlich luxuriöser ausstaffieren wollte, und so ein elendes Gerippe trägt eine bortenbestickte griechische Mütze auf dem Kopf und ist in den üppigen Schlafrock eines reichen Rentners gehüllt — so liegt es auf dem Rücken da vor mir und scheint einen zugleich schrecklichen und komischen Schlaf zu schlafen.

Um den Hals tragen sie eine Art Blindentafel mit ihrem Namen und Todestag. Diese Daten lassen einen bis in die Knochen erschauern: 1880, 1881, 1882 . . .

So sieht also ein Mensch aus — oder was vor acht Jahren noch ein Mensch war? Das hat gelebt, gelacht, geredet, gegessen, getrunken und war voller Lebensfreude und Hoffnungen. Und das hier ist daraus geworden! — Vor dieser Doppelreihe unsäglicher Gebilde sind Särge und Kisten gestapelt, Luxussärge in schwarzem Holz mit Kupferbeschlägen und viereckigen Gucklöchern zum Hineinschauen. Man könnte meinen, es wären Koffer — das Reisegepäck von Wilden, in einem billigen Basar eingehandelt von denen, die sich anschicken zur großen Reise, wie man früher gesagt hat.

Doch weitere Gewölbe werden rechts und links sichtbar. Schier ins Unendliche scheint sich dieser unterirdische Friedhof auszudehnen.

Jetzt sind wir bei den Frauen, die fast noch bizarrer wirken als die Männer; denn man hat sie mit viel Koketterie herausgeputzt. In Spitzenhäubchen, mit Bändern festgehalten, sind die Köpfe wie eingequetscht und starren einen an aus diesem schneeigen Weiß — schwarze, verweste Gesichter, zerfressen von der makabren Arbeit des Erdreichs. Die Hände ragen wie abgesägte Wurzeln aus den Ärmeln des Festgewandes heraus, und die Strümpfe, die die Beinknochen umhüllen, scheinen völlig leer zu sein. Manch eine trägt auch nur Schuhe an den Füßen — große, für diese armen vertrockneten Füße viel zu große Schuhe.

Und hier die jungen Mädchen, die schrecklichen jungen Mädchen in ihren weißen Gewändern — mit metallenen Kränzen um die Stirn zum Zeichen ihrer Unschuld. Man könnte sie für alte, sehr alte Weiber halten, solche Fratzen schneiden sie. Und sie waren sechzehn, achtzehn, zwanzig, als sie starben. Es schaudert einen!

Jetzt aber kommen wir in ein Gewölbe mit lauter kleinen Glassärgen — das sind die Kinder. Die kaum erhärteten Knochen haben nicht standgehalten. Und so weiß man nicht recht, was man eigentlich da sieht, so entstellt, ja förmlich zermalmt und schrecklich sehen sie aus, die armen Kleinen. Die Tränen können einem kommen, wenn man sehen muß, wie die Mütter ihnen die kleinen Anzüge und Kleider angezogen haben, die sie in ihren letzten Lebenstagen getragen hatten. Und sie kommen immer wieder, um ihre Kinder zu sehen!

Häufig hängt neben dem Leichnam ein Photo, das ihn so zeigt, wie er früher aussah, und man kann sich kaum etwas Erschütternderes, etwas Schrecklicheres vorstellen als diesen Gegensatz und diese Ähnlichkeit, als die Gedankenverbindungen, die einem durch diesen Vergleich ankommen.

Wir durchqueren ein noch dunkleres, niedrigeres Gewölbe, das den Armen zugedacht zu sein scheint. In einem finsteren Winkel hängen ihrer zwanzig zusammengebündelt unter einer Luke, die von Zeit zu Zeit einen Luftschwall von draußen über sie hereinbläst. Sie sind in eine Art schwarzes Sackleinen gehüllt, das oben am Hals und unter den Füßen zusammengeknotet ist. Man könnte meinen, sie schlottern, wie sie so überein-andergeneigt da beisammenhängen. Es ist, als wollten sie irgend etwas Schrecklichem entfliehen, als schrien sie um Hilfe. Auch an die Besatzung eines untergegangenen Wracks könnte man denken, die immer noch vom Sturm gepeitscht sich in das braune, ölgetränkte Segeltuch hüllt, das die Matrosen im Unwetter tragen, und die immer noch geschüttelt wird vom Schrecken des letzten Augenblicks, bevor sie das Meer verschlang.

Hier nun sind wir in der Abteilung für Priester. Eine stattliche Ehrengalerie! Auf den ersten Blick scheinen sie in ihren geheiligten schwarzen, lila und roten Prunkgewändern noch gräßlicher zu sein als die anderen.

Wenn man aber so einen nach dem anderen betrachtet, befällt einen ein etwas krampfhaft nervöses, aber unwiderstehliches Lachen angesichts ihrer bizarren und unheimlich-komischen Attitüden. Einige scheinen zu singen, andere zu beten. Man hat ihnen das Kinn hochgehoben und die Hände gefaltet. Sie haben ihr Meß-käppchen auf dem Kopf, das jedoch bei einem keck auf dem Ohr, bei einem anderen beinahe auf der Nase sitzt. Es ist ein Karneval des Todes, 'der die reichbestickten priesterlichen Gewänder zur Burleske werden läßt.

Von Zeit zu Zeit rollt wohl ein Kopf zu Boden, wenn die Mäuse die Gelenkbänder des Halses durchgefressen haben. Es leben ja Tausende von Mäusen in dieser Kühlkammer für Menschenfleisch.   - (err)

Gewölbe (3) Einmal hörte ich, als Ich durch eine Gasse hindurchging, ein schwaches Jammern, das aus der Erde hervorzukommen schien. Es war nur ein Streifen buckligen Fußwegs, auf dem ich mich befand; auf beiden Seiten erhoben sich die schmutzigen Mauern und verwandelten den Mittag in Dämmerung. Keine Menschenseele war zu sehen. Ich stutzte und wäre fast davongelaufen, als ich diesen schaurigen Ton hörte. Es klang wie das ieise, hoffnungslose, unaufhörliche Jammern eines auf ewig Verlorenen. Schließlich kam ich an eine Öffnung, die einen Zugang bildete zu einer Reihe von tiefen Kellern unter einem baufälligen alten Lagerhaus. Und dort unten, etwa fünfzehn Fuß unterhalb des Gehweges, sah man in unaussprechlichem Schmutz, den Kopf nach vorn gebeugt, einen Menschen, offenbar eine Frau, sitzen. Ihre bläulichen Arme drückten die runzligen Gestalten zweier Kinder an ihre bleiche Brust, die sich zu beiden Seiten gegen sie lehnten. Zuerst vermochte ich nicht zu erkennen, ob sie noch lebten oder schon tot waren. Sie gaben kein Zeichen von sich und bewegten sich nicht, aber aus dem Gewölbe kam dieses herzzerreißende Klagen.

Ich machte mit meinem Fuß ein Geräusch, das in der Stille von nah und fern widerhallte, aber ich erhielt keine Antwort. Noch lauter, worauf eins der Kinder den Kopf hob und einen schwachen Blick nach oben warf. Dann schloß es die Augen und lag bewegungslos da. Auch die Frau schaute herauf und bemerkte mich, ließ die Augen aber wieder sinken. Sie waren stumpf und fast tot vor Entbehrung. Wie sie in diese Höhle gekommen waren, vermochte ich nicht zu sagen, aber sie hatten sich dorthin verkrochen, um darin zu sterben. In diesem Augenblick kam mir nicht einmal der Gedanke, ihnen zu helfen, denn der Tod stand so deutlich ausgeprägt in ihren verglasten und teilnahmslosen Augen, daß ich sie beinahe als nicht mehr lebend ansah.  - Herman Melville, Redburn. Seine erste Reise. In: H. M., Redburn. Israel Potter. Sämtliche Erzählungen. München 1967 (zuerst 1849)

Gewölbe (3)

Gewölbe (4)

Gewölbe (5)

 - N.N.

Gewölbe (6)

Gewölbe (7) Über eine Geheimtreppe, die, in die dicke Wand gemauert, nur ihr und Vathek bekannt war, gelangte sie in die geheimnisvollen Gewölbe hinab, in denen Mumien aus alten Pharaonengräbern aufgebahrt lagen, und befahl, einige davon aufzupacken. Dann begab sie sich in eine Galerie, die durch fünfzig Negerinnen, die stumm und dazu auf dem rechten Auge blind waren, bewacht wurde und wo das Öl der giftigsten Schlangen verwahrt lag, dazu Rhinozeroshörner und Hölzer von feinem, durchdringendem Geruch, die aus dem innersten Indien stammten, zusammen mit tausend andern seltenen Zaubermitteln. Karathis selbst hatte diese Sammlung vielahnend angelegt, in der Hoffnung, sie einst gut verwenden zu können in einem Handel mit den Mächten der Hölle, die sie leidenschaftlich liebte und deren Geschmack ihr nicht fremd war. Um sich besser mit greulichen Anblicken vertraut zu machen, verweilte sie einige Zeit bei den Negerinnen, die mit geilem Entzücken nach den Gerippen und Totenschädeln schielten, die Karathis aus den Wandschränken hervorzog, wobei sie die wollüstigsten Verrenkungen machten und laut mit den Zähnen klapperten, so daß die Prinzessin es schließlich nicht mehr aushielt und, dazu durch den Gestank der Ausdünstungen gezwungen, die Galerie verließ, nachdem sie ihr einen Teil ihrer ansehnlichen Schätze entnommen hatte.   - William Beckford, Vathek. Stuttgart 1983 (Bibliothek von Babel, Bd. 3. Hg. J. L. Borges)

Gewölbe (8)

- Piranesi

 

Mauer Keller

 

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