ewöhnung   Herbert Lieberman  hat eine der Fragen gelöst, die sich den Polar-Autoren heutzutage stellen: Wie kann ich dem Leser trotz all dem, was um uns herum geschieht, noch einen Schock verpassen? Die Lösung: Der Held von Necropolis ist oberster Gerichtsmediziner von New York. Ergebnis: Mindestens ein Drittel von jedem Kapitel ist den sterblichen Überresten und der Art und Weise, in der man sie zerteilt, gewidmet. Die ersten Seiten sind ein wenig anstrengend. Schließlich gewöhnt man sich daran. Genau das ist Liebermans Thema, und es ist nichts moralisch Verwerfliches dabei. Man gewöhnt sich nicht nur daran, man ist wie der Held gefesselt von dem Rätsel, vor das einen zum Beispiel siebenundvierzig nicht zusammengehörende Körperteile stellen (so ist es, siebenundvierzig, später werden es noch mehr...), und von der Arbeit, die darin besteht, sie wieder passend zusammenzusetzen, um herauszufinden, um wieviele Menschen es sich handelt, wer sie waren, was ihnen angetan wurde, was für ein Mensch das getan hat und warum. Liebermans Held ist ein reiner Verfechter des reinen Wissens. Das ist auch seine Schwäche. Als großer Arzt hat er sich eiskalt für das Wissen entschieden, nicht für das Heilen. Er wird durch seine eigene Schwäche bestraft werden; er wird in seinem Fleische getroffen werden.  - Jean-Patrick Manchette, Chroniques. Essays zum Roman noir. Heilbronn 2005 (DistelLiteraturVerlag, zuerst 1996)

Gewöhnung (2)  Mit der Zeit war mit den Dämonen eine Veränderung vorgegangen. Früher hatten sie ausschließlich Angst und Schrecken unter den anderen Lebensformen verbreitet, sich vorwiegend nachts herumgetrieben, in Wäldern Wanderern aufgelauert, in Gewitternächten in Kaminen rumort, Kinder erschreckt und so weiter. Als dann die Dämonenbevölkerung immer mehr zunahm, wurden die Belästigungen durch sie zur Tagesordnung. Es war normal, daß ein Dreizüngiger Moosdämon mit einer blutigen Axt im Kopf über die Bettkante lugte und heulte wie ein Nachtgespenst, wenn man sich zur Ruhe legte.

Man erschreckte sich nicht mehr, wenn bei einem Waldspaziergang ein Gnom hinter einem Baum hervorsprang und schreckliche Grimassen schnitt. Nicht einmal die Kinder ängstigten sich noch, wenn die Kohlendämonen unter der Kellertreppe randalierten. Man hatte sich nach und nach an sie gewöhnt.  - (zam)

Gewöhnung (3)  Heute morgen begegnet mir im Treppenhaus des Verlages unser Graphiker Oscar Fischer. »Mann Gottes!« rufe ich. »Sie leben!« Er lächelt melancholisch. »Nicht mehr so ganz, aber ein bißchen. Was so nach etlichen Zuchthausmonaten übrigbleibt, wenn man sein Logis vis-à-vis dem Hinrichtungsschuppen aufschlägt.« Er beugt sich vertraulich zu mir herüber. »Glauben Sie mir, es geht an die Nerven«, flüstert er grämlich. »Nicht das Kopfabschlagen. Daran gewöhnt man sich. Aber das ganze Drum und Dran. Die scheußliche Zeremonie.«  - Ruth Andreas-Friedrich, Der Schattenmann. Tagebuchaufzeichnungen 1938-1945. Notat vom 17. Mai 1944. Frankfurt am Main 1987 (zuerst 1947)

Gewöhnung (4) Wenn wir kleine Kinder sind, ist die Hölle nur der Name des Teufels im Munde unserer Eltern. Danach wird dieser Begriff komplizierter, und während der endlosen Nächte unserer Jugend wälzen wir uns im Bette und versuchen, die uns versehrenden Flammen - die Flammen der Einbildung! - zu löschen. Noch später, wenn wir schon nicht mehr in den Spiegel schauen, weil unsere Gesichter dem des Teufels zu gleichen beginnen, wird der Begriff der Hölle zu einer intellektuellen Angst, so daß wir, um solcher Qual zu entfliehen, uns daranmachen, sie zu beschreiben. Und im Alter ist uns die Hölle so nah, daß wir sie als notwendiges Übel akzeptieren und sogar unsere Angst vor ihr nicht mehr zeigen. Noch später (und nun sind wir schon mitten in ihren Flammen) überkommt uns, während wir brennen, eine Ahnung, daß wir uns womöglich an sie gewöhnen könnten. Nach tausend Jahren fragt uns ein Teufel mit besorgtem Gesicht, ob wir noch leiden. Und wir antworten, daß die Gewöhnung schlimmer ist als das Leiden selbst. Schließlich kommt der Tag, an dem wir die Hölle verlassen könnten, aber das Anerbieten energisch ausschlagen, denn wer verzichtet schon auf eine liebgewordene Gewohnheit?  - Virgilio Piñeiro, Kalte Geschichten, nach (boc)

Gewöhnung (5)  Zur Verwunderung des Plinius konnte Mithridates, nachdem er immer höhere Dosen zu sich genommen hatte, schließlich Gift trinken, und ein Mädchen, das nach dem Bericht des Curtius zu Alexander geschickt wurde, war von Jugend auf an Gift gewöhnt. Die Türken nehmen, wie Bellonius schreibt, Opium gewöhnlich gleich drachmenweise, während wir uns kaum ein Gran davon zutrauen. Garcias ab Horto berichtet von einem Mann, den er in Goa traf und der zehn Drachmen Opium in drei Tagen konsumierte und trotzdem noch mit Verstand redete. Das alles vermag die Gewöhnung.  - (bur)

Gewöhnung (6)

Gewöhnung (7)  Im alten China wurden taoistische Mönche »high«, indem sie Cannabis-Dämpfe aus ihren Weihrauchgefäßen inhalierten. Offenbar wurden große Mengen davon konsumiert. In der taoistischen Schrift Shen-nung pen-tsao ching vom Beginn des 1. Jahrhunderts v. Chr. heißt es: »Wenn sie viel davon nehmen, sehen die Menschen Dämonen und benehmen sich wie Wahnsinnige. Inhaliert man aber über einen längeren Zeitraum hinweg, kann man mit den Geistern in Kontakt treten und der Körper wird ganz leicht.«  - (erf)

 

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