Jean-Patrick Manchette, Chroniques. Essays
zum Roman noir. Heilbronn 2005 (DistelLiteraturVerlag, zuerst 1996)
Gewöhnung (2) Mit der Zeit war mit den Dämonen eine Veränderung vorgegangen. Früher hatten sie ausschließlich Angst und Schrecken unter den anderen Lebensformen verbreitet, sich vorwiegend nachts herumgetrieben, in Wäldern Wanderern aufgelauert, in Gewitternächten in Kaminen rumort, Kinder erschreckt und so weiter. Als dann die Dämonenbevölkerung immer mehr zunahm, wurden die Belästigungen durch sie zur Tagesordnung. Es war normal, daß ein Dreizüngiger Moosdämon mit einer blutigen Axt im Kopf über die Bettkante lugte und heulte wie ein Nachtgespenst, wenn man sich zur Ruhe legte.
Man erschreckte sich nicht mehr, wenn bei einem Waldspaziergang ein Gnom
hinter einem Baum hervorsprang und schreckliche Grimassen schnitt. Nicht einmal
die Kinder ängstigten sich noch, wenn die Kohlendämonen unter der Kellertreppe
randalierten. Man hatte sich nach und nach an sie gewöhnt. - (
zam
)
Gewöhnung (3) Heute morgen begegnet
mir im Treppenhaus des Verlages unser Graphiker Oscar Fischer. »Mann Gottes!«
rufe ich. »Sie leben!« Er lächelt melancholisch. »Nicht mehr so ganz, aber ein
bißchen. Was so nach etlichen Zuchthausmonaten übrigbleibt, wenn man sein Logis
vis-à-vis dem Hinrichtungsschuppen aufschlägt.« Er
beugt sich vertraulich zu mir herüber. »Glauben Sie mir, es geht an die Nerven«,
flüstert er grämlich. »Nicht das Kopfabschlagen.
Daran gewöhnt man sich. Aber das ganze Drum und Dran. Die scheußliche Zeremonie.«
- Ruth
Andreas-Friedrich, Der Schattenmann. Tagebuchaufzeichnungen 1938-1945. Notat
vom 17. Mai 1944.
Frankfurt am Main 1987 (zuerst 1947)
Gewöhnung (4) Wenn wir kleine Kinder sind,
ist die Hölle nur der Name des Teufels im Munde unserer
Eltern. Danach wird dieser Begriff komplizierter, und während der endlosen Nächte
unserer Jugend wälzen wir uns im Bette und versuchen, die uns versehrenden Flammen
- die Flammen der Einbildung! - zu löschen. Noch später, wenn wir schon nicht
mehr in den Spiegel schauen, weil unsere Gesichter dem des Teufels zu gleichen
beginnen, wird der Begriff der Hölle zu einer intellektuellen Angst, so daß
wir, um solcher Qual zu entfliehen, uns daranmachen, sie zu beschreiben. Und
im Alter ist uns die Hölle so nah, daß wir sie als notwendiges Übel akzeptieren
und sogar unsere Angst vor ihr nicht mehr zeigen. Noch später (und nun sind
wir schon mitten in ihren Flammen) überkommt uns, während wir brennen, eine
Ahnung, daß wir uns womöglich an sie gewöhnen könnten. Nach tausend Jahren fragt
uns ein Teufel mit besorgtem Gesicht, ob wir noch leiden.
Und wir antworten, daß die Gewöhnung schlimmer ist als das Leiden selbst. Schließlich
kommt der Tag, an dem wir die Hölle verlassen könnten, aber das Anerbieten energisch
ausschlagen, denn wer verzichtet schon auf eine liebgewordene Gewohnheit?
- Virgilio Piñeiro, Kalte Geschichten,
nach (
boc
)
Gewöhnung (5) Zur Verwunderung des
Plinius konnte Mithridates, nachdem
er immer höhere Dosen zu sich genommen hatte, schließlich Gift trinken, und
ein Mädchen, das nach dem Bericht des Curtius zu Alexander
geschickt wurde, war von Jugend auf an Gift gewöhnt. Die Türken
nehmen, wie Bellonius schreibt, Opium gewöhnlich gleich drachmenweise,
während wir uns kaum ein Gran davon zutrauen. Garcias ab Horto berichtet
von einem Mann, den er in Goa traf und der zehn Drachmen Opium in drei Tagen
konsumierte und trotzdem noch mit Verstand redete. Das alles vermag die Gewöhnung.
-
(bur)
Gewöhnung (6)
Gewöhnung (7) Im alten China wurden
taoistische Mönche »high«, indem sie Cannabis-Dämpfe
aus ihren Weihrauchgefäßen inhalierten. Offenbar wurden große Mengen davon konsumiert.
In der taoistischen Schrift Shen-nung pen-tsao ching vom Beginn des 1.
Jahrhunderts v. Chr. heißt es: »Wenn sie viel davon nehmen, sehen die Menschen
Dämonen und benehmen sich wie Wahnsinnige. Inhaliert man aber über einen längeren
Zeitraum hinweg, kann man mit den Geistern in Kontakt treten und der Körper
wird ganz leicht.« - (
erf
)
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