efräßigkeit
Er war gastfrei wie ein Magnat. Die Gastfreundlichkeit ging bei ihm
bis zur Leidenschaft. Er brauchte sich nur auf dem Lande niederzulassen, und
schon hatte er einen Haufen Gäste zu sich geladen. Vielen mag dies als unsinnig
erscheinen: ein Mensch, der sich gerade aus viele Jahre währender Not herausgearbeitet
hat, der mit so großer Mühe eine ganze Familie erhalten mußte - die Mutter,
den Bruder, die Schwester, den Vater -, der nicht einen Groschen für den nächsten
Tag besitzt, der hat sein ganzes Haus, von oben bis unten, voller Gäste gesteckt
und bewirtet sie, und unterhält sie, und kuriert sie!
Er mietete sich ein Landhaus irgendwo in einem entlegenen Winkel der Ukraine, hatte es noch nicht einmal gesehen, wußte noch nicht, wie es aussah, lud aber bereits allerlei Leute dorthin ein, aus Moskau, aus Petersburg, aus Nischnij.
Und als er sich in einem Gutshof in der Nähe Moskaus niedergelassen hatte, da wurde sein Haus einem Gasthof ähnlich.
»Wir erwarten Iwanenko. Suworin wird kommen, ich werde Baranzewitsch einladen«, teilt er Nata Lintwarewaja aus Melichowo im Jahre 1902 mit.
Zugleich lud er auch sie ein. Außerdem geht aus seinem nun folgenden Brief hervor, daß er außer diesen drei Leuten auch noch Lasarew-Grusinskij und Jeschow und Lejkin eingeladen hatte, und daß Lewitan bereits bei ihm zu Gast war.
Acht Leute, aber das war noch nicht alles: manche, die man nicht einmal mehr als Gäste betrachtete - Freunde seiner Familie, Stammgäste, und eine große Menge zufälliger, unbemittelter Leute, hatten im Hause ein ständiges Unterkommen gefunden.
Selbstverständlich litt er nicht selten unter dieser Menschenmenge. »Seit Karfreitag habe ich bis heute Gäste, Gäste, Gäste... und ich habe nicht eine Zeile geschrieben.« Aber nicht einmal das konnte seine unbezähmbare Sucht nach Gästen einschränken. In eben dem Brief, in welchem diese Klage zum Ausdruck kommt, bittet er Kundassow zu sich, und dann Wladimir Tichonow, und Lejkin, und Jassinskij, und aus dem darauf folgenden erfahren wir, daß bei ihm Suworin und die Schtschepkin-Kupernik und die Seliwanow-Krause aus Taganrog bereits zu Besuch sind.
Stets fröhlich, munter, humorvoll und voller Einfälle, umgab ihn eine Atmosphäre jugendlicher Heiterkeit, die sich sogar im Stil seiner Einladungen widerspiegelte.
»Nun, mein Herr«, schrieb er zum Beispiel an einen Redakteur des »Sever«, »dafür, daß Sie mein Portrait abgedruckt und damit zum Ruhme meines Namens beigetragen haben, verehre ich Ihnen fünf Bund Radieschen aus meinem eigenen Garten. Sie sollten zu mir kommen (aus Petersburg! Etwa sechshundert Werst! - K. T.) und diese Radieschen verzehren.« Und so hatte er den Architekten Schechtel eingeladen: »Wenn Sie nicht kommen, dann hoffe ich, daß sich Ihnen auf der Straße in aller Öffentlichkeit die Unterwäsche löst.«
Das Wesentliche ist aber hier nicht die Treuherzigkeit Tschechows, sondern die ungeheure Lebensenergie, die in dieser Treuherzigkeit zum Ausdruck kommt.
Jedesmal, wenn er Freunde und Bekannte zu sich bat, pflegte er in den glühendsten Farben, als sei es eine Parodie auf die Reklame für einen Kurort, die Genüsse, welche sie erwarteten, zu schildern.
»Es ist ein gesunder Ort, fröhlich, üppig, viel besucht...«, »Hundertmal wärmer und schöner als die Krim...«, »Die Kutsche ist bequem, die Pferde sind außerordentlich kräftig, die Straße ist wunderbar, die Leute in jeder Hinsicht bezaubernd ...«, »Eine grandiose Badegelegenheit...«
Er pflegte sehr energisch einzuladen, ohne auch nur einen Gedanken daran
aufkommen zu lassen, daß es dem Eingeladenen vielleicht nicht möglich wäre,
zu ihm zu kommen. »Ich werde Sie unweigerlich an einem Strick zu mir schleifen«,
schrieb er an den Schriftsteller Schtscheglow. Die Mehrzahl seiner Einladungen
fand tatsächlich mit der Fangschlinge statt: so sehr war in ihnen sein standhafter
und keinen Widerspruch duldender Wille zu spüren. -
K. Tschukowskij, Nachwort zu (
tsch
)
Gefräßigkeit (2) Wie sollte es aber nicht unschicklich
sein, sich von dem Speiselager zu erheben und das Gesicht beinahe in die Schüsseln
hineinzutauchen, indem man sich vom Lager wie aus einem Nest vorbeugt, um, wie
man zu sagen pflegt, beim Einatmen den von den Speisen ausströmenden Duft
einzufangen? Wie sollte es nicht unvernünftig sein, mit den Händen immer in
den leckeren Speisen herumzusuchen oder sich unausgesetzt nach dem Essen auszustrecken,
gleich Leuten, die nicht etwas davon versuchen, sondern es ganz an sich reißen
wollen, und sich mit ihm maßlos und unanständig anzufüllen. Man kann ja sehen,
daß solche Leute in ihrer Gefräßigkeit mehr Schweinen
oder Hunden als Menschen ähnlich sind, da sie sich so
rasch sättigen wollen, daß beide Backen zugleich sich herauswölben und die Adern
im Gesicht anschwellen. Zugleich strömt der Schweiß
an ihnen herunter, weil sie von ihrer Unersättlichkeit
geplagt werden und infolge ihrer Unmäßigkeit außer Atem gekommen sind und die
Nahrung in einer Eile, die anderen nichts gönnen will, in den Magen hinabstoßen.
- Clemens von Alexandrien,
Kirchenvater
, nach
(lte)
Gefräßigkeit (3) »Hab' ich euch endlich, meine lieben Jungen!« Über diesen Totengruß einer Mutter vor den Särgen ihrer beiden Söhne berichteten am Morgen die Zeitungen. Ich mußte lange und nach verschiedenen Richtungen darüber nachsinnen. So erschien es mir wunderbar, daß m einer Zeit, in der sich die Sprache in voller Auflösung befindet, eine einfache Frau einen Satz von so unwiderstehlicher Kraft zu bilden vermag.
Das Ereignis selbst hielt sich ganz im Rahmen der vermischten Nachrichten.
Zwei junge Arbeiter, Brüder, schon seit einiger Zeit auf Abwege geraten, wurden
bei einem Verbrechen überrascht, an das sich eine langwierige Verfolgung schloß.
Nachdem das Treiben immer enger geworden war, hatte man sie endlich in einem
Hause gestellt und nach einem längeren Kugelwechsel zur Strecke gebracht. -
(
ej
2)
Gefräßigkeit (4) die grenzen unserer gefräßigkeit
bis zu den sternen zu erweitern, ist ohne zweifel ein ohnmächtiger anspruch,
der gedanke eines sich zu eigen gemachten sternes ist einer der absurdesten
gedanken, die formuliert werden können (was ein italienischer oder katholischer
stern, oder, verlockender, aber nicht weniger verrückt: ein m. raymond roussel
gehörender stern wäre), wenn es aber nicht möglich ist, einen stern der menschlichen
kleinheit anzupassen, so ist es dem menschen erlaubt, sich seiner zu bedienen,
um seine elenden grenzen zu sprengen, derjenige, der sich vorstellt, wie er
einen stern ißt, selbst wenn er ihn sich lustig von der große eines kleinen
kekses dächte, kann nicht die absicht haben, ihn auf die große dessen zu reduzieren,
was er unbehindert in der hand hält: er muß die absicht haben, größer zu werden,
bis er sich in der blendenden tiefe des himmels verliert. - Georges
Bataille, nach:
Raymond Roussel, Afrikanische Impressionen. München 1980 (zuerst 1910)
Gefräßigkeit (5)
- Aus: Hieronymus Bosch, Garten der Lüste
Gefräßigkeit (6) Am meisten von sich reden
machte das Abendbankett, das ihm sein Bruder zur Feier seiner Ankunft in Rom
gab, und bei dem, wie es heißt, zweitausend der seltensten Fische und siebentausend
Vögel auf den Tisch kamen. Aber selbst dies Essen übertraf er noch durch ein
Festmahl, das er bei der Einweihung einer silbernen Schüssel gab, die er wegen
ihrer ungeheuren Größe „den Schild der Stadtbeschirmerin Minerva" zu nennen
pflegte. Darin wurden Lebern von Meerbrassen, Gehirne von Fasanen und Pfauen,
Zungen von Flamingos, Milch von Muränen, zu deren Herbei-Schaffung man die Kapitäne
und die Galeeren aller Meere von Parthien bis zur spanischen Meerenge in Bewegung
gesetzt hatte, zu einem Ragout verbunden, aufgetragen. Vitellius war ein Mensch
von nicht nur unersättlicher, sondern auch an keine Zeit sich bindender unanständiger
Gefräßigkeit. So konnte er sich nicht einmal enthalten, beim Opfern Stücke des
Opferfleisches und der Opferkuchen geradezu vom Herdfeuer zu reißen und noch
an den Altären selbst vom Flecke weg zu verzehren, oder auf Reisen in den Garküchen
der Landstraßen noch dampfendes Gemüse oder auch wohl schon angebrochene Gerichte
vom Tage zuvor hinunterzuschlingen. - (
sue
)
Gefräßigkeit (7)
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