Friedhofsgespräch   Karathis sprach zu sich selbst: «Auf einem so prachtvollen Friedhof fehlen doch sicher die Gulen, diese klugen Wesen, nicht. Nachdem ich durch Unachtsamkeit meine Führer verrecken ließ, werde ich nun diese Herrschaften nach dem Weg fragen und lade sie in dieser Absicht zu einer Mahlzeit an den beiden frischen Leichen ein.» Nach diesem weisen Selbstgespräch wandte sie sich nun an Nerkes und Kafur und gab ihnen in der Fingersprache folgenden Befehl: «Steigt ab, klopft an die Gräber und laßt liebliches Gezwitscher hören.» Die Negerinnen waren höchst entzuckt über diese Weisung, weil sie sich von der Gulengesellschaft viel Vergnügen versprachen. Sie setzten ihre Siegermienen auf und beganen, an die Gräber zu klopfen. Alsbald wurde unter dumpfem Gedröhn das Klopfen von unten herauf erwidert, der Boden hügelte sich auf, und von allen Seiten kamen nun Gulen herbei, die die Nasen in die Luft reckten, um den Duft besser einsaugen zu können, der von den Leichen der Waldleute ausging. Sie versammelten sich vor einem weißen Marmorsarkophag, wo Karathis zwischen ihren elenden Opfern saß. Die Prinzessin empfing ihre Gäste mit ausgesuchter Höflichkeit, und nachdem die Herrschaften gespeist hatten, sprach man von Geschäften. Karathis erfuhr schnell alles, was sie zu wissen wünschte, und ohne Zeit zu verlieren, machte sie sich daran, ihre Reise fortzusetzen. Ihre Negerinnen, die zärtliche Beziehungen zu den Gulen angeknüpft hatten, beschworen sie mit der ganzen Beredsamkeit von zwanzig Fingern, doch wenigstens bis zum Morgengrauen zu warten. Aber Karathis. die die Tugend selber war und eine geschworene Feindin aller Liebeshändel, erhörte dies Flehen nicht, bestieg Albufaki und befahl ihren Weibern, sofort hinten aufzusitzen. - William Beckford, Vathek. Stuttgart 1983 (Bibliothek von Babel, Bd. 3., Hg. J. L. Borges)

Friedhofsgespräch (2)  Mir war unbegreiflich, wieso Herr Kauderer es für nötig gehalten hatte, mich durch ein mysteriöses Billett, das er mir in aller Heimlichkeit hatte zukommen lassen, mitten in tiefster Nacht auf den Friedhof zu bestellen. Wenn er zurückgekehrt war, warum konnten wir uns dann nicht wie gewöhnlich sehen? Und wenn er noch nicht zurückgekehrt war, wem würde ich dann auf dem Friedhof begegnen?

Am Tor war der Totengräber, den ich schon aus der Schenke kannte. »Ich suche Herrn Kauderer«, sagte ich.

Er antwortete: »Herr Kauderer ist nicht da. Aber schließlich ist ja der Friedhof die Wohnung derer, die nicht da sind, also treten Sie ein.«

Ich schritt langsam zwischen den Gräbern voran, da streifte mich plötzlich ein rascher raschelnder Schatten. »Herr Kauderer!« rief ich, verwundert, ihn hier mit dem Fahrrad ohne Licht zwischen den Grabsteinen umherfahren zu sehen.

»Psst!« hieß er mich schweigen. »Sie sind sehr unvorsichtig! Als ich Ihnen neulich die Wetterstation anvertraute, dachte ich nicht, daß Sie sich mit einem Fluchtversuch kompromittieren würden. Für individuelle Fluchtversuche haben wir hier nichts übrig. Man muß die Zeit reifen lassen. Wir haben weiterreichende Pläne, auf längere Sicht.«

Als ich ihn so mit einer weitausholenden Geste »wir« sagen hörte, dachte ich, daß er im Namen der Toten spreche. Ja, die Toten, deren Sprachrohr Herr Kauderer so offensichtlich war, gaben mir durch ihn zu verstehen, daß sie mich noch nicht in ihren Reihen empfangen wollten. Ich empfand eine spürbare Erleichterung.

»Es ist auch Ihre Schuld, daß ich jetzt noch länger wegbleiben muß«, fuhr er fort. »Morgen oder übermorgen wird der Polizeikommissar Sie vorladen und wegen des Ankers verhören. Passen Sie auf, daß Sie mich nicht in diese Sache hineinziehen; denken Sie immer daran, daß alle Fragen des Kommissars darauf abzielen werden, von Ihnen etwas über mich zu erfahren. Sie wissen nichts über mich, außer daß ich für ein paar Tage verreist bin und nicht gesagt habe, wann ich wiederkomme. Sie können sagen, daß ich Sie bloß gebeten habe, ein paar Tage lang für mich die Daten abzulesen, aber wohlgemerkt nur ein paar Tage lang. Im übrigen sind Sie von Ihrem Dienst an der Wetterstation ab sofort entbunden.«

»Nein, das nicht!« rief ich aus, von einer jähen Verzweiflung gepackt, als wäre mir gerade aufgegangen, daß allein die Kontrolle der meteorologischen Instrumente mich in die Lage versetzte, die Kräfte des Universums zu meistern und darin eine Ordnung zu erkennen.   - Italo Calvino, Wenn ein Reisender in einer Winternacht. München 2007 (Zuerst 1979)

Friedhofsgespräch (3)  Die wenigen Fuß Dorsetshirer Tonerde, der halbe Zoll brüchigen westländischen Ulmenholzes, die ihn von dem emporgewandten Schädel seines Erzeugers trennten, waren für ihn nicht mehr als durchsichtiges Glas. Er blickte hinab in William Solents leere Augenhöhlen, und die leeren Augenhöhlen blickten auf ihn zurück. Stetig, geduldig, gleichgültig blickten sie zurück; und zwischen dem Kopf ohne Nase, der emporsah, und dem Kopf mit so deutlich betonter Nase, der hinabsah, gab es einen sardonischen, wortlosen Dialog. „So sei es", sagte der Sohn zu sich selbst. „Ich werde es nicht vergessen. Ob hier Wegerich wächst oder kein Wegerich, das Universum soll mich nicht zum Narren haben." — „Narren haben; Narren haben", echote von drunten der fleischlose Schädel. - John Cowper Powys, Wolf Solent. Wien u. Hamburg 1986 (zuerst 1929)
 

Friedhof Gespräch


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