Feigenbaum  Es war einmal eine Frau, die gebar ein Kind, und ihr Mann fuhr darauf zu den Inseln hinaus, um Schildkröten und Seekühe zu fangen. Er wollte sie an Ort und Stelle gleich räuchern und meinte, er würde wohl in einem Monat wiederkommen. Seine Mutter war eine alte Frau und konnte zaubern. Eines Tages sagte sie zu ihrer Schwiegertochter: »Ein Feigenbaum steht nicht weit von hier; seine Früchte sind reif, klettere doch hinauf und hole sie herunter.« Die junge Frau war noch schwach und hatte keine Lust zu gehen. Doch die alte Frau drängte sie so lange, bis sie ja sagte und auf den Baum kletterte. Als sie im Baume saß, murmelte die Alte ihre Sprüche. Dabei vergaß sie ganz, wo sie war, und rief schließlich laut: »Haltet sie fest! Haltet sie fest!«

»Was sagst du, Mutter?« fragte die junge Frau. »Nichts! Nichts! Ich redete mit den Kindern und sagte ihnen, sie sollten schnell die reifen Feigen aufsammeln.« Dann murmelte sie ruhig weiter und schloß stets mit: »Haltet sie fest! Haltet sie fest!«

Da hielten die Äste des Feigenbaumes, der ganz und gar mit einer klebrigen Masse bedeckt war, die junge Mutter so fest, daß sie nicht loskommen konnte. Nun kletterte die alte Frau hinauf und schnitt ihrer Schwiegertochter eine Hand ab. Dann stieg sie wieder hinab, nahm die Hand mit nach Haus und legte sie dort hin, um sich etwas Gemüse zum Essen zu holen. Als die alte Hexe verschwunden und außer Hörweite war, rief die junge Frau: »Kinderchen! Kinderchen! Kommt und holt euch Milch und gebt sie eurem jüngsten Bruder.«

Und die Kinder antworteten: »Die Mutter ruft, kommt, laßt uns die Milch holen.«

Sie holten zwei Kokosschalen, taten die Milch hinein und gaben sie dem Säugling zu trinken. Kaum waren sie damit fertig, als die alte Hexe wieder hereinkam. »Was macht ihr da mit den Schalen?« fragte sie argwöhnisch. »Wir holten für den Säugling Wasser aus dem Fluß«, gaben sie zur Antwort.

Am nächsten Tag schnitt die Hexe den Unterarm ab und holte sich Taro, um ihn dazu zu essen. Sobald sie fort war, wiederholte sich das Schauspiel von gestern: die Kinder kletterten auf den Baum, holten von der Mutter die Milch und gaben sie dem Säugling. Und als die Hexe wiederkam, glaubte sie, es wäre wie gestern Wasser gewesen.

Das wiederholte sich nun an den drei folgenden Tagen; die Hexe holte sich den Oberarm, dann die Schulter und schließlich die Brust. Die Kinder hörten die Mutter vergeblich schreien.  - Südsee-Märchen. Hg. Paul Hambruch. Köln Düsseldorf 1979 (Diederichs: Märchen der Weltliteratur)

Feigenbaum (2)  Zweimal stolpert der Entdeckungsreisende, dann befindet er sich in einem weitläufigen Hof, zwei- bis dreimal so groß wie die anderen. Über dem ganzen Platz brütet ein riesenhafter, verschlungener Feigenbaum, der auch in die hintersten Ecken noch ein wenig Schatten wirft. Bei näherem Hinsehen entdeckt der Entdeckungsreisende mit Schaudern, daß der Baum mit Menschenschädeln geschmückt ist, neben mehreren geschnitzten Figuren, die unnatürliche Akte veranschaulichen: Autofellatio, Päderastie, Koprophagje. Die bizarrste Statue, mit lüstern verzerrten Zügen, zeigt eine schwangere Frau mit den vielfachen Zitzen einer Hündin, die gerade eine Schlange entweder verschlingt oder ausspeit, welche ihrerseits gerade den Kopf eines Säuglings verschlingt oder ausspeit.  - T. Coraghessan Boyle, Wassermusik. Reinbek bei Hamburg 1990

Feigenbaum (3) Ein Kaufherr hatte eine Frau, in welche sich vier Stadtsöldner und der Obersöldner verliebten und Mittelspersonen zu ihr schickten. Sie gab ihnen Gehör. Sie bestimmte die Zeit der Zusammenkunft und als jene nach dem Orte fragten, wies sie ihnen einen unweit der Stadt befindlichen Feigenbaum an, der mit seiner Krone gen Himmel ragte, dessen Zweige sehr ausgebreitet und dessen Laub sehr dicht war. Sie sollten auf diesen Baum steigen und sie erwarten. Sie selbst aber wartete die Gelegenheit ab, um von Hause zu gehen. Der Mann jedoch schöpfte Argwohn, schlug sie und band sie an eine Säule. Einem der fünf Liebhaber hatte sie sagen lassen, er solle einen Zweig auf der Ostseite des Baumes besteigen, sie würde an dem Tage kommen. Dieser tat mit Freuden also. Der zweite bestieg ebenfalls auf ihre Anweisung einen Zweig auf der Südseite des Baumes, der dritte auf der Westseite und der vierte auf der Nordseite. Der Obersöldner aber kletterte auf einen Zweig in der Mitte des Baumes. So brachten sie die ganze Nacht allein, von dem Winde in Furcht versetzt, in Erwartung auf dem Baume zu, allein das Weib kam nicht, obwohl der Morgen schon anbrach. Da sagte der auf dem Zweige der Ostseite Wartende in einem Verse: »Aufgegangen ist die Sonne, aus dem Dorfe kommt der Ackersmann; daß die Lügenhafte nicht erschienen, muß der Feigenbaum erfahren.« Der auf dem Zweige der Südseite Harrende sagte: »Das Weib, das kommen wollte, ist wahrhaftig lügenhaft, diese Sonne voller Herrlichkeit wird nun aufgehen.« Der auf der Ostseite Befindliche sagte: »Wirst du, Treffliche, kommen? So gefragt, sprach sie: >Jawohl.<« Darauf sprach der auf dem Zweige der Westseite Sitzende in einem Verse: »Da zur rechten Zeit die Sonne sich erhoben, gehn aus dem Dorf die Ackersleute; da ich die Zeit nicht hab gekannt, hab' in der Nacht mein Äug' ich nicht geschlossen.« Nach einer Weile sprach der auf dem Zweige der Nordseite Sitzende: »Da ich zur Klarheit nicht gekommen, hat mich die ganze Nacht der Wind geschüttelt; wer fremden Frauen nachgeht, erleidet solcherlei und anderes.« Darauf sagte der Obersöldner: »Hat euch der Wind durchschüttelt, will auch ich nicht klagen, der Feigenbaum, der nichts verschuldet, klagt, daß ihm die Äst' gebrochen.« Die in dem Baume wohnende Gottheit sagte, als sie jene angeführt sah: »Klagen sollst du selbst und auch die andern vier; ist der Vaiçâkha-Mond gekommen, wächst der Baum, den man beschnitten.« -  Märchen aus Tibet. Hg. Helmut Hoffmann. Düsseldorf Köln 1965 (Diederichs, Märchen der Weltliteratur)

Feigenbaum (4) Mir träumte, ich reiste mit Dir durch einen fremden Ort, ein Nest voll lauter Mörder- und Diebesspelunken, und plötzlich in einer unterirdischen Schmiedewerkstatt entdeckten wir, daß man mir all mein Geld, auch Deinen Hundertmarkschein, aus der Brieftasche gestohlen hatte; lauter falsche Scheine, sogenannte „Blüten", hatten mir die Halunken dafür hineinpraktiziert. Wirkamen uns ganz verraten und verkauft vor in dem fremden Land: wovon sollten wir leben?! Unheimlich! Aber als wir dann sahen, daß die Ringe noch an unsern Fingern- waren, kamen wir uns so seltsam reich vor, daß wir nur zu winken brauchten, um alles zu haben; allerlei Gesindel brachte uns aus den dunkeln Gängen der Schmiede mit scheuen Blicken das schönste Essen herangeschleppt, undganz glückselig ließen wirs uns schmecken. Und plötzlich saßen wir unter einem merkwürdig blau blühenden Feigenbaum — (das muß wohl durch das Wort „Blüten" Traumbild geworden sein) — und durch den roten Glutglanz, der von dem Schmiedefeuer hinten in der Höhle ausging, flatterten zahllose Banknoten von dem Baum auf uns nieder, die waren alle echt, wir brauchten bloß zuzugreifen. und ringsum lachende Gesichter; vor Entzücken wachte ich auf. - Richard an Isi Dehmel, nach (je)

 

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