istanzverbrechen  »Ein Mord, der von einem Täter begangen wurde, der zur Tatzeit nicht in dem Raum war, aber den Anschein erweckt, als hätte er dort sein müssen.

Um dies zu erklären«, unterbrach sich Dr. Fell, »weise ich nunmehr diese Sorte Mord der allgemeinen Kategorie der Distanz- oder Eiszapfen-Verbrechen zu, da es sich normalerweise um Varianten dieses Prinzips handelt. Ich habe von Eiszapfen gesprochen; Sie begreifen, was ich damit sagen will? Die Tür ist verschlossen, das Fenster zu klein, der Mörder hätte nicht hindurchschlüpfen können, und doch ist das Opfer augenscheinlich in diesem Zimmer erstochen worden; die Tatwaffe fehlt. Nun, der Eiszapfen ist als Projektil von draußen abgeschossen worden - wir werden nicht diskutieren, ob so etwas praktisch durchführbar ist; genausowenig, wie wir die geheimnisvollen Gase diskutiert haben, von denen die Rede war. Der Eiszapfen schmilzt, ohne eine Spur zu hinterlassen. Ich glaube, es war Anna Katharine Green, die in ihrem Roman Initials Only diesen Trick als erste in die Kriminalliteratur einführte.

Übrigens hat sie eine ganze Reihe von Traditionen ins Leben gerufen. In ihrem ersten Roman begründete sie das Motiv des mörderischen Sekretärs, der seinen Arbeitgeber umbringt, und ich glaube, heutige Statistiken würden erweisen, daß der Sekretär immer noch der beliebteste literarische Mörder ist. Butler sind längst aus der Mode; der Invalide im Rollstuhl ist zu verdächtig; und die sanftmütige Jungfer mittleren Alters hat ihre Mordlust längst an den Haken gehängt; sie ist statt dessen selbst zur Detektivin avanciert. Auch Ärzte benehmen sich heutzutage etwas gesitteter, mit Ausnahme derer, die berühmt und dann verrückte Wissenschaftler werden. Rechtsanwälte halten sich zwar hartnäckig als windige Burschen, werden aber nur in seltenen Fällen wirklich gewalttätig.

Aber das Rad dreht sich weiter! Edgar Allan Poe verplauderte sich vor 80 Jahren, als er seinen Mörder Goodfellow nannte; und der populärste Kriminalschriftsteller unserer Zeit tut genau dasselbe, indem er seinem Erzschurken den Namen Goodman gibt. Indes sind Sekretäre immer noch die gefährlichsten Burschen, die man im Haus haben kann.

Aber zurück zu unserem Eiszapfen: Sein Gebrauch wurde den Medici zugeschrieben, und in einer der bewundernswerten Fleming-Stone-Geschichten wird ein Epigramm von Martial zitiert, um zu zeigen, daß der Eiszapfen seine tödliche Karriere im Rom des ersten nachchristlichen Jahrhunderts begann.

Nun, er wurde geworfen oder vermittels diverser Apparaturen, bis hin zu einem Bogen, abgeschossen, so zum Beispiel in einem Abenteuer Hamilton Cleeks, dieser großartigen Figur aus Forty Faces. Variationen desselben Themas, ein schmelzendes Geschoß, sind Steinsalzkugeln sowie Kugeln aus gefrorenem Blut.

Die Beispiele veranschaulichen, was ich mit Verbrechen meine, die von einer Person, die sich selbst außerhalb eines Raumes befindet, in diesem Raum begangen werden. Es gibt andere Methoden: Das Opfer kann mit der dünnen Klinge eines Stockdegens ermordet werden, die durch die geflochtenen Wände eines Gartenhauses geschoben und wieder zurückgezogen wird, oder mit einer Klinge erstochen werden, die so dünn ist, daß es seine Verwundung zunächst gar nicht bemerkt und in ein anderes Zimmer geht, bevor es dann plötzlich tot zusammenbricht. Oder es wird dazu gebracht, aus einem Fenster zu schauen, das von unten unzugänglich ist, von oben jedoch saust unser alter Freund Eisberg herunter und beschert ihm einen zertrümmerten Schädel, aber es gibt keine Waffe, denn die Waffe ist geschmolzen.

In diese Kategorie gehören Morde, die mit Hilfe giftiger Schlangen oder Insekten verübt werden. Schlangen können nicht nur in Kommoden und Panzerschränken versteckt, sondern auch geschickt in Blumentöpfen, Büchern, Kronleuchtern und Spazierstöcken untergebracht werden.

Aber als das faszinierendste Distanzverbrechen, das jemals in einem verschlossenen Raum verübt wurde, meine Herren, empfehle ich Ihnen eine der glänzendsten Kurzgeschichten der Kriminalliteratur. Sie teilt sich die Ehre, in die oberste Kategorie absoluter Unschlagbarkeit zu gehören, mit Thomas Burkes Die Hände des Mr. Ottermole, Chestertons Der Mann in der Passage und Jacques Futrelles Das Rätsel von Zelle 13. Ich spreche von Melville Davisson Posts Erzählung mit dem Titel The Doomdorf Mystery. Der auf Distanz bleibende Mörder ist in diesem Fall die Sonne. Die Sonne scheint durch das Fenster des verschlossenen Raumes; eine Flasche von Doomdorfs eigenem Methylalkohol wird zum Brennglas und entzündet das Zündhütchen eines Gewehrs, das an der Wand hängt - und die Brust des verhaßten Opfers wird zerfetzt, während er im Bett liegt.  - John Dickson Carr, Der verschlossene Raum. Köln 1993 (DuMont's Kriminal-Bibliothek 1042, zuerst 1935)