ieresch
»Zerdahel also meint«, sagte Und Umgekehrt und lehnte sich an den Türstock,
»daß sich die Gemeinschaft der Bieresch seit ihren Anfängen nicht verändert
hat. Als Beweis führt er die große Anzahl von Schriften an, die ein bis in die
Kleinigkeiten historisch getreues Bild der Biereschek zeichnen, und diese Berichte
sind in der Tat so frisch, als wären sie heute geschrieben. In jedem einzelnen
erkennen wir unser Leben wieder, jeder von uns könnte sie verfaßt haben, auch
wenn sie tausend Jahre alt sind. Daraus zieht Zerdahel nun den Schluß, daß nicht
nur die Arbeitsbedingungen, die Gebräuche und gesellschaftlichen Zustände,
sondern auch die Menschen dieselben geblieben seien. Nicht nur die Anlagen
und Charaktereigenschaften, sondern auch das Individuum selbst, das eine einmalige,
unzweideutige, nicht miß zu verstehende Kombination dieser Eigenschaften darstellt,
die sich nie wieder wiederholen wird, sieht er als sich durch die Arbeit reproduzierende
Konstante. Unser Gesellschaftssystem, sagt er zurecht, ist in unserer Arbeit
gefroren, und nicht nur wir haben uns unseren Produkten einverleibt, es ist
ein Zweiweg-Kanal, auch unserer Produkte verleiben sich uns ein. Auch darin
stimme ich ihm noch zu, und ich tue es selbst dort noch, wo er behauptet, jedes
neue Individuum sei ein Wink, der uns helfen soll, uns auf eine neue, alte Weise
zu verstehen, und daß folgerichtig jeder Todesfall eine überflüssig gewordene,
unbenutzt gebliebene Information aus dem Spiel ziehe. Und ich glaube auch, daß
es in Ordnung ist, daß unsere Kinder zu Hunderten sterben, lange bevor sie sich
noch gefunden haben, obwohl das nächste Kreiskrankenhaus nicht mehr als zehn
Kilometer entfernt ist. Denn es handelt sich bei unserer Gesellschaft um einen
sich selbst regelnden Prozeß - ich sage Prozeß und nicht Kreislauf! -, und jedes
Kind zuviel würde eine Informationsredundanz schaffen, die unserer Marterung
eine weitere Marter hinzufügte. ›Nur ein totes Kind ist ein gutes Kind!‹ sagt
der Zyniker, und darin hat er recht. - Aber ich glaube nicht an die Unausweichlichkeit
unseres Schicksals. Würde ich das tun, müßte ich alles aufgeben. Wir haben ja
selbst noch die spitzfindigsten Überlegungen im Lauf unsrer Geschichte auf
die Spitze getrieben! Wenn auch nur eine einzige Generation von Bieresch sich
wiederholt hätte und es ihr nicht gelungen wäre, dieses Rätsel zu lösen, ich
würde es für ewig unlösbar halten! - Also sage ich zu Zerdahel: ›Wie kann dein
System denn stimmen, wenn mir immer zuerst der Name Inga einfällt, sobald ich
an mich selbst denke? Wie käme es denn zu De Selbys Ablakok-Sensationen?‹ -
Und was antwortet Zerdahel? Zerdahel sagt: ›Es ist die kleine Unschärferelation!
Mit den Namen ist es wie mit dem Relief am Eingang zum Ballsaal: Ist man zu
weit entfernt, löst es sich auf, steht man zu nahe, verschluckt es einen. Aber
ein Bieresch bist du, denn du siehst es, und das kann nur ein Bieresch!‹ - Ich
sage: ›Du und deine Unschärferelation! Angenommen, ich wäre nun tatsächlich
Und Umgekehrt, und du bist ja so stolz auf deine handgeschnitzten Beweisstücke
- wem würde es nützen? Wem sollte es gelingen, diese verfluchte Geschichte zu
schreiben, wenn erst jeder dasitzt und an einen anderen denkt? Du an Und Umgekehrt,
ich an Inga.‹ - Und Zerdahel sagt: ›Die gefälschten Etymologien
sind schuld. Sinnruinen glotzen uns aus
der Sprache an. Die kleine Unschärferelation: Du bist Und Umgekehrt, aber wenn
du erst einmal über dich nachzudenken anfängst, wirst du unscharf, verschwimmst,
wirst verschluckt, wirst Inga.‹ - ›Ich verschwimme
nicht‹, sage ich. ›Daß ich unscharf werde, liegt, wenn, dann einzig und allein
daran, daß mich alle Und Umgekehrt rufen, ich aber Inga bin. Ich denke sozusagen
mit euch, wenn ich über mich nachdenke, wie du das ausdrückst. Die erste Antwort
auf mein Nachdenken ist, wie es meiner Natur entspricht, Inga, erst dann werde
ich unsicher!‹ - ›Das System ist umkehrbar, sagt Zerdahel. ›Denk meinetwegen
zuerst an Und Umgekehrt, was glaubst du wohl, was schließlich herauskommt? -
Ich sage: ›Inga!‹ - Zerdahel sagt: ›Natürlich. Aber daran sind nicht wir anderen
schuld, daran ist schuld, daß uns die Namen nicht in ihrer ursprünglichen Form
erhalten sind, daß aus den vielen Phantasien, die um sie herum gedichtet wurden,
zwei Extreme - Inga, Und Umgekehrt - sich herausgebildet haben und zu Gegensätzen
versteinert sind.‹ - ›Das ist das Schlimme an dir‹, sage ich schließlich, ›daß
du die Wahrheit mit der Lüge mischst und das Gewebe schließlich so undurchdringlich
wird.‹ - ›Da hast du's‹, sagt Zerdahel - er muß ja immer das letzte Wort haben:
›Gerade so redet Und Umgekehrt seit dreitausend Jahren!‹ - Klaus Hoffer, Bei den Bieresch. Frankfurt
am Main 1986 (zuerst 1979/1983)