Vorturner   Wir pflegten uns bei einem Kameraden zu treffen, der ein Zimmer im obersten Stockwerk eines Mietshauses bewohnte, wie sie damals ebenso schnell wie unsolide gebaut wurden. Das Zimmer hatte ein breites Fenster, aus dem man durch einen tiefen Schacht auf den Hof blickte, der aus der Höhe kaum größer als ein Kartenblatt erschien. Der Kamerad hieß Lorenz; er war ein schlanker, etwas nervöser Junge und hatte auch bei den Leichten Reitern gedient. Wir hatten ihn alle gern; es war etwas von alter Freiheit, von alter Leichtigkeit in ihm. Fast jeder hatte damals eine Idee; das war eine besondere Eigentümlichkeit der Jahre, die jenem Krieg folgten. Die seine bestand darin, daß die Maschine die Quelle allen Übels sei. Er wollte daher die Fabriken in die Luft sprengen, das Land neu verteilen und in ein Bauernreich umwandeln. Da würden alle friedlich, gesund und glücklich sein. Um diese Meinung zu belegen, hatte er eine kleine Bibliothek erworben - zwei, drei Reihen zerlesener Bücher, vor allem von Tolstoi, der sein Heiliger war, auch frühe Anarchisten wie Saint-Simon.

Der arme Junge wußte nicht, daß es heute nur eine Bodenreform gibt: die Expropriation. Dabei war er selbst der Sohn eines enteigneten Landwirts, der seinen Verlust nicht überlegt hatte. Besonders merkwürdig erschien der Umstand, daß er diese Ideen unterm Dache eines Mietshauses verfocht und inmitten eines Kreises, dem es zwar an verworrenen Plänen nicht mangelte, der aber in technischer Hinsicht auf der Höhe war.

Infolgedessen fehlte es nie an heiteren Zwischenrufen, wenn er seine Ideen entwickelte, wie etwa: »Zurück zur Steinzeit« oder »Ne-andertal, du bist mei Freud«. Wir übersahen aber oder wir sahen nicht deutlich genug, daß etwas von heiligem, wenngleich ohnmächtigem Zorn an unserem Freunde zehrte, denn das Leben in diesen Städten, die wie von ehernen Schnäbeln ausgeweidet glühten, war grauenhaft. Lorenz hatte damals nicht in unsere rüde Gesellschaft gehört, sondern in die Obhut einer Familie, in die Hände einer liebenden Frau. Monteron hatte ihn besonders gemocht.

An diesem schrecklichen Abend, es war eher schon gegen Morgen, war viel getrunken worden, und die Köpfe hatten sich erhitzt. Geleerte Flaschen standen auf dem Tisch und an den Wänden, und aus den Aschenbechern schwelte Rauch durch das offene Fenster, durch das der Blick auf einen ungesunden Himmel fiel. Das war vom Frieden der Dörfer weit entfernt.

Ich war fast eingeschlafen, und nur der Lärm der Unterhaltung hielt mich wach. Plötzlich schreckte ich auf; ich fühlte, daß sich etwas im Räume vollzog, das höchste Aufmerksamkeit forderte. So beginnt ein Empfänger zu schwingen, wenn er angesprochen wird. Die Musik wird unterbrochen durch die Signale eines Schiffes, das mit dem Untergange kämpft.

Die Kameraden schwiegen; sie blickten auf Lorenz, der sich erhoben hatte und sich in äußerster Erregung befand. Sie mochten ihm wohl wieder zugesetzt haben, hatten scherzhaft genommen, was eigentlich die Hilfe eines erfahrenen Arztes erforderte. Zu spät erkannte jeder, wie ungewöhnlich das alles gewesen war.

Lorenz, der übrigens nichts getrunken hatte und nie zu trinken pflegte, war offensichtlich in eine Art von Trance verfallen; er verfocht seine Idee nicht mehr. Er klagte vielmehr, daß Männer fehlten, die das Gute wollen; dann ließe es sich leicht verwirklichen. Die Väter

hätten es uns gezeigt. Und dabei sei es doch so leicht, das Opfer zu vollbringen, das die Zeit erwartete. Dann würde der Spalt sich schließen, der die Erde zerriß.

Wir blickten ihn an und wußten nicht, worauf es hinauslaufen sollte; halb war es uns wie bei einer unsinnigen Tirade zumute, halb wiederum wie bei einer Beschwörung, bei der Unheimliches heraufglänzte.

Er wurde jetzt ruhiger, als wöge er eine besonders überzeugende Wendung ab. Er lächelte und wiederholte: »Es ist doch so leicht. Ich will es euch vormachen.« Dann rief er: »Es lebe ---«, und schwang sich aus dem Fenster hinaus.

Ich will nicht wiederholen, welche Widmung er ausbrachte. Wir glaubten zu träumen, aber zugleich war es, als würden wir an einen Starkstrom angeschlossen; wir saßen wie eine Versammlung von Gespenstern mit gesträubten Haaren im leer gewordenen Raum.

Lorenz, obwohl der Jüngste von uns, war Vorturner gewesen; ich hatte ihn oft genug gesehen, wie er die Flanke über den Barren oder das Pferd machte. Genauso verschwand er aus der Mansarde; er hatte die Hand leicht auf das Fensterbrett gelegt und schwang sich gewandt herum, so daß sein Gesicht noch einmal hereinblickte.

Waren es fünf Sekunden, waren es sieben einer außerordentlichen Stille, die nun folgte - ich weiß es nicht. Jedenfalls möchte man, selbst in der Erinnerung, einen Keil in die Zeit treiben, damit sie ihre Logik, ihre Unumwendbarkeit verlöre, einen Keil in die unerbittliche Zeit. Dann tönte aus der Tiefe des Hofes der furchtbare Aufschlag, dumpf, doch zugleich hart; es war kein Zweifel, daß er tödlich war.

Wir stürzten die Treppen hinab, hinaus in den engen, zwielichtigen Hof. Ich will verschweigen, was dort für ein Wesen kauerte. Aus solcher Höhe pflegt der Körper bald mit dem Kopf nach unten zu stürzen - daß Lorenz es fertig gebracht hatte, auf den Beinen zu landen, zeigte, daß er ein guter Turner war. Der Sprung wäre aus dem zweiten, ja vielleicht aus dem dritten Stockwerk noch geglückt. Doch es gibt Dinge, die nicht zu leisten sind. Ich sah zwei helle Spangen, an denen Gespinste hingen: die Knochen hatten im Anprall die Hüften durchstoßen und bleichten in der Luft.  - Ernst Jünger, Gläserne Bienen. In: E. J., Ausgewählte Erzählungen, Stuttgart 1985 (zuerst 1957)

Turner


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