Unentgeltlich  

Ein Traum

Ich bin auf der Flucht. Ich habe meine Schuhe verloren.
Kirschbäume blühen hinter einem verlassenen Haus.
Der Zaun ist zerbrochen. Meine Füße sind staubig, wund.
Ich sitze im Gras, schlafe ein. Durch das offene Fenster
blicke ich in ein Zimmer, das weiß und kühl ist. Im Traum
sehe ich einen alten Mann barfuß vor einer Leinwand stehen.
Er kehrt mir den Rücken zu. Leicht gebückt
tänzelt er in der Morgensonne und setzt
mit winzigen Strichen rasch ein paar Schuhe hin,
zwinkernd. Wie leicht das geht! Der Geruch
der Farbe ist stechend und fett, und im schrägen Licht
funkelt der nasse Pinsel, jedes einzelne Haar.
Die Zeit vergeht. Weich und rehbraun malt er
die beiden Stiefelchen nebeneinander, etwas versetzt,
in das weiche Gras. Ich rieche das Leder. Die Schlaufen,
die Zungen glänzen matt, ich kann die Haken zählen,
die eisernen Ösen. Außer im Kopf des Malers
und auf seinem Bild sind keine Schuhe da.
Von der Straße her höre ich Leute murmeln,
Hundegebell, Lärm. War das nicht ein Schuß?
Warum tust du das, rufe ich im Traum, was du tust?
Hast du kein Leder? - Er rührt sich nicht. -Ja,
sie sind schön, aber was heißt schön? Bekommst du
Geld dafür? — Ich glaube, er lacht. — Außerdem
sind sie alt und abgetragen. - Er stellt sich taub,
wirft einen Blick auf das Bild, zuckt die Achseln
und geht. Die Stiefelchen stehen warm,
wie zwei schlafende Hasen, im Gras.

  - Hans Magnus Enzensberger, Die Furie des Verschwindens. Frankfurt am Main 1980 (es 1066)

 

Uneigennützigkeit Preis Lohn

 

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