chuhe  Kaum beachtetes, aber äußerst heikles Kleidungsstück. Während die Kleidung allgemein ein wichtiges Thema des Romans ist und besonders die der Frauen immer wieder detailreich und liebevoll beschrieben wird, erschließt sich die Bedeutung der Schuhe (ex negativo) aus zwei peinlichen Zwischenfällen: Kurz nachdem Swann der Herzogin von Guermantes von seiner Krankheit und seinem mit Sicherheit kurz bevorstehenden Tod berichtet hat, stellt ihr Mann fest, daß sie schwarze Schuhe zum roten Kleid trägt, und schickt sie zum Umziehen, obwohl beide auf dem Weg zu einem Fest sind, das sie unter keinen Umständen verpassen wollen und sie sich durch Swann bereits haben aufhalten lassen. Die ganze Szene ist bereits ironiegetränkt, als Swann von seinem bevorstehenden Tod spricht: »... doch vor allem möchte ich nicht, daß Sie sich verspäten, Sie sind zum Diner eingeladen, setzte er hinzu, weil er wußte, daß für die andern ihre eigenen mondänen Verpflichtungen dem Tode eines Freundes vorgehen, und er sich aus Höflichkeit an ihre Stelle versetzte. Aber auch der Standpunkt der Herzogin gestattete es ihr, undeutlich zu spüren, daß das Diner, zu dem sie ging, für Swann wohl weniger zählen mochte als sein eigener Tod.«

Mit dem vom Tode gezeichneten, abgeklärten Swann und den Guermantes auf dem Weg zu einem Fest stehen sich zwei Welten gegenüber, die nicht miteinander kommunizieren können. Würden die Guermantes zulassen, daß die Nachricht vom Tod in ihr Bewußtsein eindringt, wäre ihre Welt vom Zusammenbruch bedroht, da kein soziales Ereignis und keine gesellschaftliche Hierarchie ihre absolute Bedeutung behalten könnten. Der panische Schuhwechsel, den der Herzog trotz seiner Verspätung mit »furchtbarer Stimme« anordnet, wird schließlich zum greifbaren Symbol für diese Unfähigkeit der Guermantes, den Tod in ihre Welt aus sozialen Ereignissen und Vergnügungen zu integrieren. In ihrer Hilflosigkeit wird der Schuhwechsel zu einer Übersprunghandlung, mit der sie den Störfaktor Tod (die schwarzen Schuhe) ganz konkret und wie in Panik von sich streifen, um dem weiter nach-gehen zu können, was für sie Leben (rote Schuhe) bedeutet: ihrer mondänen Existenz, ihrer unmittelbaren Lustbefriedigung.  - Ulrike Sprenger, Proust-ABC. Leipzig 1997

Schuhe (2)  Wo ich auch hingekommen bin, zuerst bin ich in ein Schuhgeschäft und habe Schuhe probiert, Dutzende Paare probiert, probiert, probiert, sage ich, und in jedem Falle ein Paar Schuhe gekauft. Ich habe mir in Paris Schuhe gekauft, in London, in Krakau, in Warschau, in Oslo, sage ich. In Kanada habe ich mir ein Paar kanadische Stiefel gekauft. Weil ich in meiner Jugend so viel herumgereist bin, aus Verzweiflung, denke ich, aus Lebensüberdruß, sage ich zum Fuhrmann, habe ich naturgemäß die verschiedenartigsten Schuhe, alle meine Schuhe sind von der unterschiedlichsten Machart, die besten Leder, sage ich, die feinsten Futter. Ich bearbeite heute noch meine Schuhe mit slowakischen Fetten, sage ich. Ich fette die Schuhe ein, aber ich ziehe sie nicht mehr an. Weil ich nur noch Gummischuhe anziehe. Die halte ich unter die Wasserleitung, wenn sie schmutzig sind, sage ich. Das Einfetten meiner Schuhe hat mir immer das größte Vergnügen gemacht, sage ich. Ganze halbe Tage habe ich mit dem Einfetten meiner Schuhe verbringen können. Ich denke: ich stehe vor der Tür und bearbeite meine Schuhe. Aber wahrscheinlich werde ich bis an mein Lebensende niemals mehr ein Paar Lederschuhe anziehen, sage ich, denn ich gehe nur noch in Gummischuhen. So gehe ich schon jahrelang in Gummischuhen und schäme mich nicht, geniere mich nicht. Auch auf Begräbnisse gehe ich in den Gummischuhen, neuerdings in den Gummistiefeln. Sommer und Winter in Gummischuhen, Gummistiefeln. Lederschuhe sind ein Anachronismus, denke ich. Ich frage mich natürlich, warum ich auch auf die Lederschuhe die großen Schnallen habe machen lassen, denn aller Voraussicht nach ziehe ich ja niemals mehr einen Lederschuh an. Aber natürlich kann es sein, denke ich, daß nach meinem Tode Leute diese meine Lederschuhe anziehen, und diese Leute werden diese großen Schnallen als einen großen Vorzug empfinden, denke ich. - Thomas Bernhard, Watten. Ein Nachlaß. In: T.B., Die Erzählungen.  Frankfurt am Main 1979

Schuhe (3)

Schuhe (4)  »Und wie ist es mit dem Keuschheitsprinzip? Worin besteht ein Verstoß gegen das Keuschheitsprinzip?«

»Das solltest du doch aus der Fuchsenstunde wissen.«

»Bezieht es sich darauf, wenn eine Commilitonin im Colleg neben mir ihren silbernen Schuh auszieht, denselben vor sich aufs Pult stellt, und ich insgeheim erregt werde beim Gedanken: dieser Schuh ist innen warm?«

Der Fuchsmajor schob den Unterkiefer vor, schaute an die Decke und sagte: »Ein Verstoß gegen das Keuschheitsprinzip liegt beispielsweise vor, wenn du dir drüben im Zeitungskiosk auf der Brücke die Zeitschrift ›Die Ehe‹ kaufst.« Dann ging er weg.  - Hermann Lenz, Spiegelhütte. Frankfurt am Main 1999 (zuerst 1962)

Schuhe (5)  Watt trug an den Füßen einen braunen Schnürstiefel und einen glücklicherweise auch bräunlichen Halbschuh. Diesen Schnürstiefel hatte Watt für acht Pence von einem Einbeinigen gekauft, der, da er sein Bein und a fortiori auch seinen Fuß bei einem Unfall verloren hatte, glücklich war, bei seiner Entlassung aus dem Krankenhaus das einzige in seinem Besitz gebliebene verkäufliche Gut zu versilbern. Er ahnte kaum, daß er dieses Glück der Tatsache verdankte, daß Watt wenige Tage früher am Meeresstrand einen zwar salzharten, aber marschtauglichen Halbschuh gefunden hatte.

Die Farben dieses Halbschuhs und dieses Schnürstiefels waren einander so nahe, und ihre Oberleder waren so verhüllt, zunächst von den Hosen und dann auch von dem Mantel, daß man sie beinahe nicht für einen Halbschuh einerseits hätte halten können und nicht für einen Schnürstiefel andererseits, sondern für ein richtiges Paar Schnürstiefel oder Halbschuhe, wenn der Schnürstiefel vorne nicht stumpf und der Halbschuh vorne nicht spitz gewesen wäre.

In diesem Schnürstiefel Größe neunundvierzig und diesem Halbschuh Größe fünfundvierzig litt Watt, der Schuhgröße siebenundvierzig hatte, wenn nicht tausend Tode so doch Folterqualen an seinen Füßen, von denen jeder freiwillig seinen Platz mit dem des anderen getauscht hätte, und wenn es nur für einen Moment gewesen wäre. - (wat)

 

Kleidungsstück

 

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