otenstadt  Es gibt keine Stadt, die mehr dazu neigte als Eusapia, das Leben zu genießen und den Sorgen zu entfliehen. Und damit der Sprung vom Leben zum Tod weniger abrupt sei, haben die Einwohner eine genaue Kopie ihrer Stadt unter der Erde gebaut. Die Leichen, derart getrocknet, daß ein von gelber Haut überzogenes Skelett zurückbleibt, werden dort hinuntergebracht, um ihre Beschäftigungen von vordem weiterzuführen. Dabei haben die Momente der Sorglosigkeit den Vorzug: Die meisten setzt man an gedeckte Tische oder stellt sie zum Tanze auf oder so, als bliesen sie Trompete. Aber auch alle Geschäfte und Berufe aus dem Eusapia der Lebenden werden untertage ausgeübt, jedenfalls aber die, denen ,bei Lebzeiten mit mehr Lust als Widerwillen nachgegangen wurde: Der Uhrmacher mitten unter allen stillstehenden Uhren seines Ladens legt sein pergamentenes Ohr an ein aus dem Takt geratenes. Pendel; ein Barbier seift mit trockenem Pinsel das Wangenbein eines Schauspielers ein, der gerade memoriert und mit leeren Augenhöhlen auf das Rollenbuch starrt; ein Mädchen mit lachendem Schädel melkt das Skelett einer Färse.

Gewiß, viele von den Lebenden wollen nach ihrem Tod ein anderes Schicksal, als ihnen beschieden war: Die Nekropole ist übervoll von Löwenjägern, Sopranistinnen, Bankiers, Geigern, Herzoginnen, Mätressen, Generalen, mehr als die lebende Stadt jemals aufzuweisen hatte.

Die Toten hinunterzugeleiten und am gewollten Platz aufzubauen, obliegt einer vermummten Bruderschaft. Niemand sonst hat Zutritt zum Eusapia der Toten, und alles, was man von dort unten weiß, das weiß man von ihnen.

Es heißt, daß es die gleiche Bruderschaft auch bei den Toten gibt und diese es nicht unterläßt, ihnen zur Hand zu gehen; nach ihrem Tod üben die Vermummten das gleiche Amt auch im andern Eusapia aus; sie lassen die Leute glauben, daß einige von ihnen schon gestorben sind und gehen immer noch hinauf und hinab. Gewiß, die Macht dieser Bruderschaft der Lebenden ist sehr ausgedehnt.

Es heißt, daß sie jedesmal, wenn sie hinuntergehen, im unteren Eusapia etwas verändert finden; die Toten schaffen Neuerungen in ihrer Stadt; nicht viele, doch sicherlich ein Ergebnis wohlausgewogener Überlegung und nicht flüchtiger Launen. Von einem Jahr zum andern, so heißt es, ist das Eusapia der Toten nicht wiederzuerkennen. Und um mitzuhalten, wollen die Lebenden auch all das machen, was die Vermummten an Neuigkeiten bei den Toten erzählen. So hat das Eusapia der Lebenden damit begonnen, seine unterirdische Kopie zu kopieren.

Es heißt, daß dies nicht erst jetzt geschieht: In Wahrheit sollen die Toten das Eusapia von oben zum Gleichnis ihrer eigenen Stadt erbaut haben. Es heißt, daß man in den beiden Zwillingsstädten unmöglich feststellen kann, wer die Lebenden und wer die Toten sind. - Italo Calvino, Die unsichtbaren Städte. München 1977 (zuerst 1972)

Totenstadt (2)  In den lichtlosen Nächten der Besatzungszeit war hier, dreihundert Meter vom rauschenden Sturzbach des Boulevard Saint-Michel entfernt, so etwas wie eine urbane, vom Mond gebannte Enklave de Chiricos mit ihren Kuppeln, ihrem Pflaster, ihren Säulenreihen und ihren Kranzgesimsen. Nichts ist so eisig, nichts ist so windig in einer Winternacht wie der mächtige Luftzug, der aus der Rue Soufflot hereinbrandet, von der Masse der Kuppel gespalten wird und einst die schwachen gelben Funzeln der Straßenlaternen vor Einsamkeit schlottern ließ — nichts war so durchdringend wie die klösterliche Kälte, die an den menschenleeren Sonntagabenden, wenn es zurück hieß ins Internat, in der Treppenrotunde und unter den hohen Gewölben des Lycée Henri IV wirbelte. Heute, da ich empfindlicher geworden bin für die verschlossene Stille, die Kälte, die Menschenleere, wundere ich mich, daß unsere Jugend nicht zu Eis erstarrt ist zwischen den Steinen dieser winddurchwehten Nekropolis: sollte sich das Leben eines Tages aus Paris zurückziehen, so scheint mir, daß die ersten Grashalme hier zwischen den Pflastersteinen hervorsprießen werden und nirgendwo anders.  - (grac2)

Totenstadt (3) Vor mir liegt der Friedhof - Deine Totenstadt, Liebe. Von dem Punkt aus, an dem ich stehe, erstreckt sie sich in alle Richtungen, bis hin zum Horizont und weiter; meine Füße sind von Gräbern, Grabsteinen, Denkmälern und abgenutzten Tränenkrügen umgeben. In all diesen Gräbern bist Du begraben. Die Grabsteine verzeichnen einer nach dem anderen Deine besonderen Todesarten. Für tausende von Grabsteinen bist Du als Kind gestorben, in der Wiege von einer Schlange getötet, bei einem Feuer vermißt, geopfert, lebendig begraben, zur höheren Unschuld eines Turms. Es folgen Deine Tode als Heranwachsende: Dein Kopf zur Ruhe gebettet im trügerischen Frieden eines nunmehr beschwichtigten Zimmers; unzählige Tode in jedem Bruchteil einer Sekunde; oftmals getötet, ich weiß nicht, ob beweint, da ich nicht weiß, ob irgend jemand Dich gut genug gekannt hat, um Dich zu beweinen; verschleiert angeklagt, vorwurfsvoll verantwortlidi gemacht für Gesten, die man unmöglich aus der repeti-tiven Rhetorik eines Grabsteins ableiten kann. Es ist nicht unwahrscheinlich, daß Du den Text dieser Grabsteine selbst geschrieben hast, und daß nur Du allein weißt, was Du Verwerfliches und Unverzeihliches getan hast. Ich sehe Gräber, welche Daten künftiger Jahre tragen und andere, die ausdrücklich mehrere Tode verzeichnen und einen Tod, den Du vor Deiner Geburt gestorben bist - manchmal Jahre oder Jahrhunderte vorher oder - wie ein kunstvolles Spiel - am Vortag Deiner Geburt. Auf jeder der zahllosen Grabplatten entdecke ich frische Blumen, Spuren neuer Pflege, aufgelockerte Erde, brennende Lichter; aber jemand hat auch Tränenkrüge zerbrochen und unleserliche Buchstaben auf einen Grabstein gekritzelt - Zeichen des Zorns oder des Schmerzes. Gewiß: all das könnte auch ein gewaltiger und makabrer Scherz sein, eine spitzbübische Jagd nach Tränen, eine planetarische Koketterie. Und doch, wenn ich mir Deine zweideutige Natur vor Augen führe, dann drängt sich mir die Frage auf, ob nicht trotzdem etwas Wahres sei an diesem Deinem unzählbaren Sterben; als wären alle Tode Dein alleiniges Vorrecht, und Du hieltest sie in einem Behältnis unter Verschluß und verweigertest allen einen Tod, außer wenn er Dir abgebettelt wird und Du ihn mit eleganter Zerstreutheit spendest. Oder geht Deine Art zu sein von einem Tod zum anderen über, weshalb man Dich auf eben diesem Weg verfolgen und dabei töricht versuchen muß, einen Deiner Tode zu überspringen und vorn auf Dich zu warten? Deine unzähligen Gräber sind Orte der Tränen und des Gelächters, der Scherze und der Rätsel. Ich bemerke unverhüllt sarkastische Grabmä'ler: eine weibliche Figur mit geheimnisvoll verschleiertem Gesicht, halbnackt ausgestreckt mit gespreizten Beinen, zur Erinnerung an ein vorsichtig ausschweifendes Leben; anderswo gesellt sich die weinerliche Keuschheit einer Nonne Ungewissen Glaubens zu einem sorgfältig geschminkten Gesicht, einer Kleinstadt-Maquülage. Mit plötzlicher Verwirrung gewahre ich einen Grabstein, den ein zweigeschlechtliches Wesen umschlingt, mit einer kalten Wunde am Hals und einem Gesicht, das lüstern ist nach sich und stumm, und ich sehe auch Grabsteine ohne Inschrift - wahrscheinlich aus Diskretion: sie spielen auf schändliche, unmöglich zu erzählende Tode an, auf heilige Tode, oder auf Entwürfe, Notizen zum Abgang, einfache und approximative Untergangsversuche.   - Giorgio Manganelli, Amore. Berlin 1982 (Wagenbach Quartheft 118, zuerst 1981)
 
 

Stadt Tote

 

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